Das Glück ist schon verdaut
Olaf Unverzarts Großmutter ist „HUNDERT“

23. Juni 2016 • Text von

Erinnern. Warten. Schlafen. Glauben. Das Ganze dann wieder von vorn. Die Großmutter von Olaf Unverzart wollte nie besonders alt werden und wurde es dann doch. Der Künstler hat sie dabei begleitet.

© Olaf Unverzart

© Olaf Unverzart

„Herzlichen Wunsch“ – das „Glück“ ist schon verdaut. Die Aufnahme vom angekauten Schokokuchen ist eines der ersten Bilder in „HUNDERT“, dem neuen Fotoband des Münchners Olaf Unverzart. Mit der Tragikomik banaler Alltäglichkeit gibt es einen recht nüchternen Vorgeschmack auf das, was rund 100 Seiten griffiges Papier erzählen werden.

„Ich wollt’ nicht hundert Jahr alt werden,
aber der Herrgott hat es in der Hand,
und jetzt bin ich halt hundert geworden.“

Es sind die Worte einer Frau, deren Leben zu Ende geht. Die Frau ist Unverzarts Großmutter. Ihr hundertstes Lebensjahr hat ihr Künstler-Enkel fotografisch dokumentiert und in ein Buch verwandelt, das seinesgleichen sucht – nicht nur wegen der brillanten Gestaltung von Alexandra Rusitschka.

© Olaf Unverzart, Hundert, Fountain Books Berlin, 2016.

© Olaf Unverzart, Hundert, Fountain Books Berlin, 2016.

Die Gesellschaft wird immer älter, hört man, liest man, sieht man an der Supermarktkasse. Deswegen machen Fernsehsender Themenwochen zum Tod und im Berliner Bezirk Neukölln finden sich tatsächlich mehrere Dutzend Demonstranten mit Rollatoren zusammen, um für ihre Rechte öffentlich einzutreten.

Die Begegnung mit dem Alter ist oft sehr intim – schon allein, weil sie manchmal nicht ganz steril abläuft und gleichermaßen Wehmut und alten Zorn mit sich bringt. Viele Menschen begegnen ihm allein oder nur im Kreise der Familie. Auch Unverzart hat über seine Großmutter einen intimen Draht zum Alter. Er aber hat einen Weg gefunden, mit Fotografie, Grafik und Sprache eine Diskursgrundlage in Buchform zu schaffen, die gleichermaßen persönlich wie ansprechend für Fremde gestaltet ist.

© Olaf Unverzart

© Olaf Unverzart

„HUNDERT“ zeigt also Bilder von Unverzarts Großmutter. Die Großmutter isst Fleischsalat. Sie grinst in der Nähe motorisierter Fahrzeuge – neben dem Motorrad oder im Auto, guckt aus dem Fenster oder durch die dicken Gläser ihrer Brille. Die Großmutter betet und bettet sich. Und als im Hintergrund die Mundharmonika gespielt wird, da singt sie – vielleicht.

Früher war vieles anstrengend, weit weg und unbequem für die Großmutter. Das lässt Unverzart einen in wenigen Sätzen zwischen seinen Fotos wissen. Doch die größte Strapaze ihres Lebens könnte das Liegen sein. Eigentlich steht ihr das Liegen gar nicht. Vielleicht ist das ganz grundsätzlich so: Wer die Füße hochlegt, weil er muss, nicht weil er kann, ist immer ein bisschen blasser. Wenn Oma Unverzart steht, am Stock geht, eine Treppe hinaufkraxelt, ja, dann ist sie eine verdammte Wucht!

© Olaf Unverzart

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„Ich weiß schon, dass alle denken, dass ich schlaf, aber ich schlaf nicht, sondern denke an früher, bete, oder sing ein Lied“, sagt Unverzarts Großmutter über ihre stillen Momente. Tobias Haberl hat ihre Erzählungen protokolliert und auf wenigen Seiten so rührend zusammengefasst, dass einem das Herz aufgehen muss, es sei denn, man hat keins.

„HUNDERT“ zeigt das Bild eines Gebisses, zeigt Fallobst, Blut, Kerzen und einen Kopfverband. Unterbrochen wird der dokumentarische Teil von alten Urlaubsbildern. Eingefasst und gefärbt mit Blick durch die rosarote Brille der Erinnerung, erzählen die Aufnahmen von Ischia, Fehmarn, Montecarlo oder Südtirol, von damals eben.

Es gibt nicht viele Kunstbücher, die es sich zu besitzen empfiehlt. So viele Couchtische kann man gar nicht kaufen. Und dann sind da noch all die Umzüge. „HUNDERT“ aber empfiehlt sich sehr. Das Buch ist lehrsam und tröstend, aufklärend und genau in dem Maße ergreifend, dass es neugierig macht auf das, was kommt.

© Olaf Unverzart

© Olaf Unverzart

Wer schon mal ein Familienmitglied im hohen Lebensalter begleitet hat, kennt die Bilder so oder so ähnlich. Wem sie fremd sind, werden sie geläufig werden. „HUNDERT“ ist angenehm undramatisch. Es ist kein Buch über das Sterben. Es ist ein Buch über den Teil des Lebens, der dem Sterben vorausgeht. Der ist hart, da wird von Unverzarts Seite aus wirklich gar nichts romantisiert. Aber er ist auch dankbar.

„Ich lach auch noch manchmal“, sagt die Großmutter, als sei das ein Ding der Unvorstellbarkeit. Zu wissen, dass man nicht alles kennt und auch nicht alles kennen wird, und dennoch zu entscheiden, dass man alles gesehen hat: Das ist Frieden, der tatsächlich ein bisschen nach Erlösung klingt. Keine Sorge, man muss dafür nicht katholisch sein.

„HUNDERT“ von Olaf Unverzart ist beim Berliner Fotobuchverlag „Fountain“ erschienen und kostet 30 Euro.

Am besten bestellt ihr es direkt hier über den hausinternen Vertrieb BLACKLAKE.