Poesie durch Technik
Cyprien Gaillards neue Filminstallation im OGR Torino

6. November 2024 • Text von

In den beeindruckenden Hallen des ehemaligen Industriekomplexes OGR in Turin präsentiert Cyprien Gaillard seine neue Filminstallation. Bei “Retinal Rivalry” verbindet der Künstler hochmoderne visuelle Techniken mit einer äußerst subjektiven Perspektive auf Deutschland. Seine skulpturalen Bildwelten sind assoziativ, expressiv und zeigen mitunter Skurriles.

Cyprien Gaillard: Retinal Rivalry, 2024, Andrea Rossetti für OGR Turin.

In einer mäandernden Montage verbindet Cyprien Gaillard in seiner neuesten Arbeit unterschiedliche Eindrücke aus Deutschland, dem Land, in dem er seit geraumer Zeit lebt. Die Arbeit bietet keine traditionelle Erzählweise, hat keine klare narrative Struktur. Filmisch durchaus interessant, verknüpft Gaillard gekonnt das illuminierte Oktoberfest in München mit einer digitalen Animation, in einer Parkgarage unter dem Kölner Dom entdeckt er römische Ruinen und in einem nationalsozialistischen Bau auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg ist nun ein Burger King. Dazu die skurrilen Fratzen mittelalterlich anmutender Skulpturen, fragile Figuren aus Meissener Porzellan, Bilder romantischer Landschaften und ein öffentlicher Schrein, der Michael Jackson gewidmet ist.

Cyprien Gaillard: Retinal Rivalry, 2024 3D motion picture, DCI DCP, dual 4k projection at 120fps, 2 Channel Audio 29:03 min © Cyprien Gaillard Courtesy the artist, Sprüth Magers and Gladstone Gallery.

Ihre visuelle und immersive Kraft bezieht die Arbeit aber nicht nur aus der Montage der Sequenzen. Im OGR in Turin werden die bewegten Bilder auf eine großformatige Leinwand projiziert, die speziell für diesen Anlass angefertigt wurde. Sie scheint im Dunkel der Industriehalle fast majestätisch zu schweben und reflektiert die Bilder in den Raum zurück. Zudem setzt der Künstler bei “Retinal Rivalry” sein Interesse an stereoskopischen Bewegtbildern fort, das mit dem Projekt “Nightlife” im Jahr 2015 begann. Die Filminstallation wirft 3-D Bilder zurück in den Raum, die mittels einer speziellen Brille für Betrachterinnen sichtbar und erfahrbarer Raum werden. Manche Räume im Film wirken wie in die Leinwand vertieft, andere Elemente scheinen aus der Leinwand in den Raum zu ragen oder in Richtung der Zuschauer*innen zu fliegen.

Cyprien Gaillard: Retinal Rivalry, 2024 3D motion picture, DCI DCP, dual 4k projection at 120fps, 2 Channel Audio 29:03 min © Cyprien Gaillard Courtesy the artist, Sprüth Magers and Gladstone Gallery.

Die dabei genutzte Technik wurde eigentlich für Hollywood-Filme entwickelt und erweitert das Dispositiv des Kinos um weitere Ebenen. Die Filminstallation, die nach ihrer Premiere in der Fondation Beyeler in Basel erstmals in Italien zu sehen ist, verwandelt das Medium Film in eine dreidimensionale, skulpturale Kunstform. Die Wahrnehmung des Ausstellungsraumes und die der Leinwand als plane Fläche wird gleichermaßen hinterfragt und verändert. Eine zusätzliche Ebene mit immersiver Kraft ist die Tonspur, die eine enigmatische Mischung aus Musik, Feldaufnahmen, den Klängen von Straßenorgeln und vereinzelten Sprachfragmenten ist. Teilweise dissonant, teilweise die Bilder untermalend, ergänzt diese Sound-Komposition die Bilder und schafft einen verdichteten Erlebnisraum.

Cyprien Gaillard: Retinal Rivalry, 2024 3D motion picture, DCI DCP, dual 4k projection at 120fps, 2 Channel Audio 29:03 min © Cyprien Gaillard Courtesy the artist, Sprüth Magers and Gladstone Gallery.

Cyprien Gaillard präsentiert mit “Retinal Rivalry” eine visuell bestechende Arbeit, in der sich Technologie und Inhalt bedingen. In den gezeigten Sequenzen überlagert der Künstler Bedeutungsebenen und legt historische Schichten frei. Seine Perspektive und sein Blick sind die eines interessierten und zugewandten Betrachters, der sich seinem Thema aus einer subjektiven Haltung nähert, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu beanspruchen. Der in Berlin und Paris lebende und arbeitende Künstler nähert sich seiner Wahlheimat auf lustvolle Art, widmet sich dem sichtbar Grotesken, dem Nebensächlichen, meist Verborgenen und dem Poetischen, Übersehenen gleichermaßen.

WANN: Die Ausstellung “Retinal Rivalry” ist noch bis zum 2. Februar 2025 zu sehen.
WO: OGR – Officine Grandi Riparazioni, Corso Castelfidardo, 22, 10128 Torino TO, Italien.

Danke an OGR Torino für die Übernahme der Reisekosten.