Drill, Baby, Drill
Cristina Lucas in den Kunstsammlungen Chemnitz

15. Oktober 2021 • Text von

In Chemnitz stellt Cristina Lucas die Frage nach Macht und Ohnmacht, sucht Gewinner, findet vor allem Verlierer und skizziert eine alles umfassende, (einst) verheißungsvolle Maschine, ein kapitalgetriebenes Mühlrad, das langsam, aber sicher zum Stehen kommt.

Ein Frachtschiff von oben.
Cristina Lucas, „Growth”, Videostill aus “The people that is missing” 2019. Courtesy: Cristina Lucas and Galería Albarrán Bourdais, Madrid.

Wer schon einmal in Chemnitz war, kennt das imposante Karl-Marx-Monument. Ein über sieben Meter hoher Kopf, der streng, fast grimmig, in Richtung Stadthalle, auf einen Dönerimbiss und einen Asia-Shop schaut. Marx selbst war nie in der Stadt, die einst seinen Namen trug, und ist hier dennoch omnipräsent. In Chemnitz, das mit allerlei gesellschaftspolitischen Herausforderungen und externen Zuschreibungen zu kämpfen hat, präsentiert die spanische Künstlerin Cristina Lucas ihre erste museale Ausstellung in Deutschland. Und auch sie bringt Marx ins Spiel. In ihrer Installation „Surplus Value“ geht sie unter anderem der Frage nach, welchen Marktwert die Manuskripte des wohl bekanntesten kapitalismuskritischen Werks „Das Kapital“ besitzen. Man ahnt es – in einem System, in dem alles auf Profit und Wachstum ausgelegt ist, wird selbst die Systemkritik zur lukrativen Ware.

Mehrere gerahmte Foto- und Textarbeiten an hellgrau gestrichener Wand. Im Raum ein kleiner Holztisch, auf dem aufgeschlagene Bücher liegen, davor ein Stuhl.
Cristina Lucas: „Surplus Value“ 2014 – 2016/ „Montains“ 2012, Installation view Kunstsammlungen Chemnitz, 2021. Courtesy: Cristina Lucas and Galería Albarrán Bourdais, Madrid. Foto: Kunstsammlungen Chemnitz/ Alexander Meyer.

„Surplus Value“ ist eine Arbeit in Lucas multimedialem Stationendrama, das sich den fundamentalen Herausforderungen dieser Zeit widmet. Nicht selten haben sich diese bereits in (mittel-)schweren Krisen konkretisiert: Klimakrise, Finanzkrise, Strukturwandel, geopolitische Konflikte. Money must be made, aber mit welchen Konsequenzen für Mensch, Natur und Gesellschaft? Lucas schlüpft für „Maschine im Stillstand“ in die Rolle der Detektivin, wird Historikerin und Data Scientist, um schließlich mit den Mitteln der Kunst die gefundenen (Um)Brüche aufzubereiten, Wunden aufzuspüren und ihren Finger tief hineinzulegen.

Großer Raum mit Glasdecke, darin aufgebaut eine dreikanalige Videoinstallation, davor drei Couches.
Cristina Lucas: „Unending Lightning“ 2015 – 2021, Installation view Kunstsammlungen Chemnitz, 2021. Courtesy: Cristina Lucas and Galería Albarrán Bourdais, Madrid. Foto: Kunstsammlungen Chemnitz/ Kristin Schmidt.

Sehr deutlich wird das in der zentralen und raumgreifenden Drei-Kanal-Arbeit „Unending Lightning“, die die Geschichte aller Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung seit Erfindung der Luftfahrt zum Gegenstand hat. Im Sekundentakt schlagen hier wortgewordene Bomben auf einer riesigen Landkarte ein, detonieren und werden durch Fakten und Fotos ergänzt. Durch Fakten, die über Jahre hinweg mit Hilfe zahlreicher Rechercheure zusammengetragen wurden und durch Bilder dokumentarischen wie künstlerischen Ursprungs. Sie zeigen Orte in Trümmern, Verstümmelte, Versehrte, Verzweifelte, Trauernde – im Wechsel mit Flugzeugen, die Bomben abwerfen, heroischen Siegerposen, einer Glorifizierung der Flieger und des Fliegens. Lucas erstellt hier eine Kartographie und zugleich Chronologie der Zerstörung und des zivilisatorischen Versagens, die bereits jetzt sechs Stunden dauert und auf Fortsetzung angelegt ist. Ein nicht enden wollender Blitzschlag, der zusammenzucken und erschaudern lässt. In eben dieser schieren Endlosigkeit kommen Stärke und zugleich Schwäche dieser Arbeit zum Tragen: Denn Repetition und Monotonie führen zu Abstumpfung und Gleichgültigkeit. Und so liegen hier Schock und Gleichmut ganz nah beieinander. Nur eines scheint sicher: Es wird wohl immer so weitergehen.

Fünf Arbeiten von Crista Lucas aus der Reihe "Tufting".
Cristina Lucas: „Tufting“ 2017 – 2021, Installation view Kunstsammlungen Chemnitz, 2021. Courtesy: Cristina Lucas and Galería Albarrán Bourdais, Madrid. Foto: Kunstsammlungen Chemnitz/ Alexander Meyer.

Das zeigt auch die Serie „Tufting“, in der Lucas das Sujet auf textile Flächen überführt. Kunstvoll bestickte Leinwände, die mittels der Tuften-Technik entstanden, zeigen Landkarten, die übersät sind mit den Namen von Luftangriffszielen gegen Zivilbevölkerung. Städte und Dörfer werden hier in die Stoffe gestickt, Nadeln durchdringen die glänzende Oberfläche und schreiben dem Gewebe die Geschichte in tiefem Schwarz buchstäblich ein. Je höher die Frequenz oder je näher die Angriffsziele beieinander liegen, desto unkenntlicher wird die eigentliche topografische Angabe. Doch mit zunehmender Unkenntlichkeit steigt das Unbehagen. Die einzelnen Orte treten zurück und evozieren dadurch einen globalen Zusammenhang. In vielen von Lucas Arbeiten ist diese Reziprozität erkennbar, ein Band zwischen Mikro- und Makroebene, das lokale Phänomene stets in einen globalen Zusammenhang setzt und umgekehrt.

Ein Video-Screen hängt im Raum, darauf zu lesen ist der Schriftzug "extinction".
Cristina Lucas: „The people that is missing” 2019, Installation view at Kunstsammlungen Chemnitz, 2021. Courtesy: Cristina Lucas and Galería Albarrán Bourdais, Madrid. Foto: Kunstsammlungen Chemnitz/ Kristin Schmidt.

So auch in ihrer Videoarbeit „The people that is missing“, mit der sie die Besucher aus der Ausstellung entlässt. Im letzten, abgedunkelten Raum präsentiert Lucas ihren Film, für den sie im Svalbard-Archipel (ehemals Spitzbergen) aufgenommene Sequenzen scheinbar intakter Natur arrangiert und ihnen unmittelbar eine menschliche Handschrift aufdrückt. Sie ritzt Botschaften in Eis und Fleisch und begleitet das auf akustischer Ebene mit einem Gedicht, das sie aus Zitaten teils zwiespältiger Zitatgeber zusammengesetzt hat. Unter ihnen Donald Trump, der mit dem Slogan „Drill, Baby, Drill“ in republikanischer Tradition ein Loblied auf das Fördern von Erdöl und Gas singt. Raubbau, Erderwärmung, dahinschmelzende Ressourcen werden hier zu einer bildgewaltigen und schaurig schönen Komposition.

Lucas Positionen berühren, deprimieren, heilen, sind bitter und bisweilen auch humorvoll. In ihrer Gänze scheinen sie ästhetisches Archiv, Mahnung und Appell an „The people that is missing“, eine stille Mitte, die näher hinschauen, hinterfragen und sich engagieren sollte, bevor die Maschine endgültig zum Stillstand kommt. Und hier wären wir dann wieder bei Chemnitz – und zugleich doch überall auf der Welt.

WANN: Die Ausstellung „Maschine im Stillstand“ ist bis Sonntag, den 31. Oktober, zu sehen.
WO: Kunstsammlungen Chemnitz, Theaterplatz 1, 09111 Chemnitz.

Im Rahmen des POCHEN Symposiums findet am Freitag, den 22. Oktober, ein digitaler Artist Talk mit der Künstlerin Cristina Lucas und Kuratorin der Ausstellung Sabine Maria Schmidt statt.