Wie Therapie, nur anders
Clemens Krauss: Künstler, Psychologe, beides

3. November 2021 • Text von

Clemens Krauss ist Künstler mit Spezialkompetenz. Er ist ausgebildeter Psychoanalytiker. Im Rahmen von Kunstprojekten bietet er Sitzungen mit Therapiecharakter an. Wie können künstlerische und psychotherapeutische Praxis ineinandergreifen?

D. Jarosch, 2020

Als die Pandemie im Frühjahr 2020 so richtig gekickt hat, habe ich mir eine Stunde Therapie gebucht. Sitzung mit Clemens Krauss, Psychologe. Ich saß vor dem Laptop in einer mäßig geheizten Wohnung in einer mäßig spannenden Stadt, unterm Strich alles eher mäßig. Da kann man sich schon mal via Zoom den Kopf richten lassen. Nur hatte ich damals so nicht gedacht. Krauss ist nämlich vor allem Künstler. Unsere Sitzung fand im Rahmen von „Isolation Consultation“ statt, eine Reihe psychoanalytischer Einzelsitzungen, ausgerichtet vom Haus am Waldsee. Krauss Künstler, ich Kulturjournalistin. Wir trafen uns beruflich – oder nicht?

Es wurde dann nämlich doch schnell persönlich. Besonders tief in die Trickkiste greifen musste Krauss dafür nicht. Er fragte: „Wie geht’s?“ Ich tat mich mit der Antwort irre schwer, obwohl ich auf die Frage hätte vorbereitet sein müssen. Sie ist ja nicht ganz ungewöhnlich. In einer auch nur therapieähnlichen Situation kann sie ganz schön was auslösen. Ein mieses Ziehen im Magen also, bloß weil sich ein Fremder via Screen nach meinem Wohlbefinden erkundigt hat. Darüber soll ich schreiben? Danke, nö.

Clemens Krauss: Massen/Masses. Installationsansicht Haus am Lützowplatz, 2021. Foto: B. Borchardt, courtesy Galerie CRONE Berlin | Wien & Dominik Mersch Gallery Sydney.

Jetzt also doch, über ein Jahr später aus passendem Anlass. Das Haus am Lützowplatz zeigt mit „Massen | Masses“ gerade eine Einzelausstellung von Krauss. Besucher*innen der Schau schlängeln sich wie durch einen Parcours entlang der neu eingezogenen Wände. Zu sehen sind Malerei und Skulptur, aber es gibt auch einen Raum für Gruppentherapie. Erneut also stellt sich die Frage, wie psychologische und künstlerische Praxis ineinandergreifen können.

Krauss – und an dieser Stelle ist er ganz Analytiker – ist es wichtig, zunächst einmal Trennschärfe herzustellen. „Es sind keine richtigen Therapiesitzungen, die ich anbiete“, stellt er klar. „Es ist ein Kunstprojekt mit Therapiesitzungscharakter.“ Ihm gegenüber entsprechend oft das typische Kunstpublikum. Die Leute, die sich anmelden, befänden sich eher nicht in schweren Lebenskrisen, so Krauss. Das schließt Therapiebedarf zwar nicht aus, verändert aber direkt die Ausgangslage: Neugier ist die treibende Kraft, die die Teilnehmer*innen und den Künstler mit analytischem Wissen zusammenbringt.

Clemens Krauss, Selbstportrait als Kind, 2017. Copyright Clemens Krauss. Foto: B. Borchardt, courtesy Galerie CRONE Berlin | Wien & Dominik Mersch Gallery Sydney.

„Es gibt sieben Milliarden unterschiedliche Biografien auf der Welt. Alle Menschen haben ihr eigenes Unbewusstes“, sagt Krauss. „Aber es gibt eine Meta-Ebene, die uns alle verbindet. Es gibt ähnliche Themen, ähnliche Abwehrstrategien, ähnliche Umgangsformen mit dem, was wir gerade jetzt ein Stück weit als kollektives Trauma erleben.“ Krauss spricht von der Pandemie, die Menschen weltweit mit einer neuen Ungewissheit konfrontiert hat. Was macht es generell mit einem, wenn Zukunftsperspektiven offen sind? „Es gibt einen irren Wunsch nach Übersicht“, erklärt Krauss. „Es gibt ein Verlangen danach, sich einen Überblick zu verschaffen, sich selbst zu orientieren, zu positionieren, herauszufinden: Wo stehe ich? Was heißt das alles jetzt eigentlich für mich?“ Die Erkenntnisse aus den Gesprächen hallen in Krauss physischen Arbeiten nach. Im Haus am Lützowplatz etwa malt er nach jeder Gruppensitzung ein bisschen weiter an einer Arbeit, die am Ende der Ausstellung seine ganz eigene Perspektive auf die therapieähnlichen Gespräche wird erahnen lassen.

Clemens Krauss, Hierarchy, 2021, Öl auf Leinwand. Copyright Clemens Krauss. Foto: B. Borchardt, courtesy Galerie CRONE Berlin | Wien & Dominik Mersch Gallery Sydney. // Clemens Krauss, Foto: Oliver Mark.

Krauss Sitzungen sind immer schnell ausgebucht. Es gibt also Interesse, ziemlich sicher kann man sagen: Es gibt Bedarf. Wenn ein Künstler, der auch Analytiker ist, die analytische Praxis in die künstlerische überführt und das dann eine Nachfrage erzeugt, der nicht nachzukommen ist, markiert das eine Leerstelle in der Gesellschaft. Krauss sieht das ähnlich. „Ich find’s beschämend“, sagt er. Zwar würden in Deutschland immerhin die drei wichtigsten Verfahren, die Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologisch fundierte sowie die analytische Psychotherapie, von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen, jedoch sei die Abdeckung insgesamt völlig unzureichend. Wer sucht, findet zumeist nur schwer einen Therapieplatz.

„In Berlin wartest du auf ein Erstgespräch im Schnitt sechs bis acht Wochen“, so Krauss. „Stell dir vor, du hast eine schwere Krise, eine Angststörung oder eine Depression und musst dann noch zwei Monate warten, bis du ein Erstgespräch bekommst.“ Nur wenn mehr Geld für Psychotherapien bereitgestellt würde, könne man Menschen rechtzeitig unterstützen. So ließe sich oft auch vermeiden, dass erkrankte Personen in Kliniken eingeliefert werden oder Medikamente nehmen müssten. Da nämlich wird es für die Kassen erst richtig teuer. Krauss hält einen Kurswechsel auf dem Gebiet also auch ganz nüchtern finanziell für die nachhaltige Entscheidung.

Clemens Krauss, Gruppe, 2021-2022, Performance, Teppich, Stühle, Dimension variabel.

Bis es aber so weit ist, hält Krauss die Stellung. Er findet, gerade während der Pandemie hätten viele Künstler*innen eine soziale, gesellschaftspolitische Funktion und Verantwortung auf sich genommen. „Auf bizarre Art und Weise haben Musik, Literatur, Theater und bildende Kunst ganz viel von den Defiziten aufgefangen, die kollektiv gesellschaftlich bestehen“, glaubt er. Er sei stolz auf all seine Kolleg*innen. „Es ist so großartig, eine kreative Kraft zu haben. Eine gute Ausstellung trägt zum Gemeinwohl bei, ein radikales künstlerisches Projekt, das zum Nachdenken anregt, trägt zum Gemeinwohl bei. Die Kunst hat da eine Bewährungsprobe bestanden.“

Krauss große Leistung besteht vielleicht darin, für eine bestimmte Gruppe Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zu einem Thema zu legen, dem noch immer eine Menge Stigmata anhaften. Wer an Krauss Sitzungen teilnimmt, braucht sich nicht eingestehen, dass sie*er Hilfe braucht oder Hilfe möchte. Man muss gar nicht therapiert werden wollen, um bei therapeutischer Fragetechnik auf den Geschmack zu kommen. „Ich glaube, einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben nach unseren Sitzungen festgestellt: ‚Och, das wäre eigentlich ganz hilfreich, eine Therapie zu machen‘“, sagt Krauss. Ich jedenfalls habe damals nach unserer Sitzung seit langer Zeit das erste Mal wieder über Therapie nachgedacht.

WANN: Die Ausstellung „Massen / Masses“ von Clemens Krauss läuft bis zum 9. Januar 2022.
WO: Haus am Lützowplatz, Lützowplatz 9, 10785 Berlin.

Ab Freitag, den 19. November, ist Clemens Krauss außerdem in der Gruppenausstellung “Kunst und Hallen. Kunstsinn über Mauern hinweg” in den Reinbeckhallen vertreten.

Ihr braucht Hilfe? In Notsituationen könnt ihr euch unter 0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222 anonym und kostenlos an die Telefonseelsorge wenden. Zudem hilft der Krisendienst der Kassenärztlichen Vereinigungen unter 116 117. In Akutsituationen, bei Gefahr für euch oder andere, ruft den Notarzt unter 112.

Wie ihr einen Therapieplatz findet, hat die „Zeit“ übersichtlich dargestellt.

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