Die Kollision von Vergangenheit und Zukunft
Alina Chaiderov in der Galerie Ciaccia Levi

24. Februar 2022 • Text von

Alina Chaiderov beschäftigt sich mit abstrakten Größen wie Zeit und der Dauer eines Orbits. Genauso spielen soziologische Fragen und ihre Herkunft aus der ehemaligen Sowjetunion eine tragende Rolle in dem Oeuvre der Künstlerin. Gerade ist sie mit ihren Fotografien in der Gruppenausstellung „The Curse of Minerva“ in der Pariser Galerie Ciaccia Levi vertreten. gallerytalk.net spricht mit Chaiderov über Bananen und die Macht unseres Unterbewusstseins.

Blick in die Galerie Ciaccia Levi
The Curse of Minerva, Installation View, Credit: Aurélien Mole. Courtesy the artists; ABC-ARTE, Genoa; Croy Nielsen, Vienna; Frank Elbaz, Paris; and Ciaccia Levi, Paris/Milan.

gallerytalk.net: Das Foto der Banane mit den Strichen und mit dem kuriosen Titel „The Second Month of Spring“ ist mir bei meinem Besuch bei Ciaccia Levi direkt aufgefallen. Die Banane ist ja nach der Installation von Maurizio Cattelan vor mehr als zwei Jahren zum Kultobjekt der zeitgenössischen Kunst mutiert. Welche Geschichte verbirgt sich hinter deinem Werk?
Alina Chaiderov: Die Banane steht hier metaphorisch für ein größeres Sujet. Sie steht sinnbildlich für Erinnerungen, für Zeit und für meinen Körper. Im April vor zwei Jahren –  im zweiten Monat des Frühlings, was auch den Titel erklärt – war ich für einige Zeit im Krankenhaus. Ich habe angefangen, Striche auf die Banane zu malen, um die Tage meines Aufenthaltes zu zählen. Ich bin 1984 in der ehemaligen Sowjetunion geboren, wo es damals keine Bananen gab. Ich glaube, daher rührt wohl immer noch meine Faszination für dieses Obst.

Zwei Fotografien von Alina Chaiderov
Alina Chaiderov, The Second Month of Spring, 2022, Credit: Aurélien Mole, Courtesy the artist and Ciaccia Levi, Paris/Milan // Alina Chaiderov, Trace In Time, 2022, Credit: Aurélien Mole, Courtesy the artist and Ciaccia Levi, Paris/Milan.

Die Banane ist ein wiederkehrendes Objekt in deinem Oeuvre. 2015 warst du mit der Installation „Before 1989 We Kept The Bananas In The Closet”, einem Schrank, der mit noch nicht reifen Bananen gefüllt war, auf der Artissima in Turin ausgestellt. Für das Werk wurdest du mit dem Illy Present Future Prize ausgezeichnet. Ich habe bisher auch eher deine Installationen gekannt. Welchen Stellenwert hat die Fotografie in deinem Werk?
Das Fotografieren ist für mich die Grundlage für eine mögliche Arbeit oder größere Skulptur. Ich mache keine Skizzen mit Bleistift auf Papier, sondern mit meiner Kamera. Mir gefällt es, Bewegungen oder das Potenzial zu Bewegungen in den Fotografien festzuhalten. Dadurch werden die Fotografien für mich skulptural und können als Skizze für eine Installation dienen. 

Du bist 1984 im ehemaligen Leningrad, heutigen Sankt Petersburg, geboren. Wie du sagtest, gab es in deiner Kindheit keine Bananen, was du nun immer wieder in deinem Werk thematisierst. Inwieweit spielt deine russische Identität in deinem künstlerischen Schaffen heute eine Rolle?
Eine Menge! Ich bin bereits von dort weggezogen, als ich sechs Jahre alt war, aber meine Großeltern sind mit meinen Eltern nach Schweden gezogen, ich bin quasi mit ihnen hier groß geworden. Ich bin mit ihrer russischen Kultur, der russischen Sprache aufgewachsen; mit russischen Freunden, russischem Fernsehen, russischer Literatur, alles war russisch. Das ist nach wie vor meine Kultur, das sind meine Wurzeln. 

Unreife Bananen in einem Schrank gestapelt.
Alina Chaiderov, “Before 1989 We Kept the Bananas in the Closet”, Collection Museo Fico, Turin Courtesy the Artist and Ciaccia Levi, Paris-Milan.

Auch das Thema „Zeit“ greifst du in deinem Oeuvre immer wieder auf. In den Fotografien, die Teil der Gruppenausstellung sind, wie den Fotos der aufeinandergestapelten Decken oder dem Fußabdruck auf dem blauen Tuch, hat man den Eindruck, dass es dir um Vergänglichkeit und Auseinandersetzung mit verschiedenen Zeitabschnitten geht. Fotografierst du gegen das Vergessen?
Das Fotografieren kann man als ein persönliches Einfrieren von Momenten sehen, absolut. Trotzdem ist jedes Motiv der Bilder performativ. Mir geht es darum, das Potenzial zur Bewegung und genauso von Bewegung zu verdeutlichen. Denn auch eine Banane wird entweder gegessen oder sie wird verrotten, sie bleibt nicht gelb und immer frisch. In ihr lässt sich das Vergehen von Zeit erkennen. Genauso wie in der Fotografie „Trace in Time“, die die aufgeschichteten Decken zeigt. 

Zwei Fotografien vor einer weißen Wand von Alina Chaiderov
Alina Chaiderov, Orbit, 2022, Credit: Aurélien Mole, Courtesy the artist and Ciaccia Levi, Paris/Milan // Alina Chaiderov, Expectation, 2022, Credit: Aurélien Mole, Courtesy the artist and Ciaccia Levi, Paris/Milan.

Wie bist du auf das Motiv der Decken gestoßen?
Das Foto stammt ebenfalls von meinem Krankenhausaufenthalt vor zwei Jahren. Ich habe einen Schrank geöffnet und darin all diese Decken gesehen. Das war verrückt, mir erschienen sie wie eine Menge von Körpern, wie eine Menge Bewegungen – sie werden immer wieder von neuem benutzt, gewaschen, verwendet für jeden einzelnen Patienten. Sinnbildlich sind sie Abdrücke von Zeit. Eine Art Zeitgeologie. 

Das ist ein schöner Ausdruck. „Zeit“ ist ja eine absolut abstrakte Größe, die jeder anders wahrnimmt. Dass die Decken für dich als Abdruck von Zeit interpretiert werden, finde ich sehr schön. Deutlich wird dieser Gedanke auch in der Arbeit „Orbit“, ein Foto eines Fußabdrucks in einem blauen Tuch. Stammt dieses Moment auch aus dem Krankenhaus?
Ja, die den Fußabdruck umgebenen Kreise erinnern an die Umlaufzeiten von Planeten. In der Astronomie ist die Umlaufzeit die Zeit, in der ein Himmelskörper auf seiner Umlaufbahn eine vollständige Umrundung, also einmal seinen Orbit durchlaufen hat. Das Foto entstand in diesem besagten April vor zwei Jahren. Ich hatte damals außerdem erfahren, dass meine Mutter sehr krank war und genau ein Jahr später, nach dem Durchlaufen eines Orbits sozusagen, im kommenden April starb meine Mutter. Mir erscheint es, als ob in diesen Bildern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander kollidieren. Manchmal frage ich mich, ob ich unterbewusst bereits das Gefühl hatte, dass etwas Derartiges passieren würde. 

Die Künstlerin Alina Chaiderov in ihrem Atelier
Alina Chaiderov Portrait, Credit: Kim Svensson.

Die Frage nach dem Unterbewusstsein bringt mich auf eines deiner Studienfächer. Du hast vor deiner Ausbildung an der Kunstakademie in Göteborg Kunstgeschichte, Soziologie, sowie Neurowissenschaften studiert. Hat letzteres einen großen Einfluss auf deine künstlerische Tätigkeit?
Natürlich, ja. Ich beschäftige mich nach wie vor intensiv mit Neurowissenschaften, lese Bücher, um unser Gehirn besser zu verstehen. Welche Informationen speichern wir, wie funktioniert es – oder wie funktionieren wir? Die Verbindungen zwischen den Neuronen faszinieren mich. Aber das Unglaubliche ist, dass wir nicht wissen, wie unser Unterbewusstsein funktioniert. Wir haben nur Theorien darüber. Mittels meiner künstlerischen Arbeit versuche ich, herauszufinden, wie diese Reibung zwischen dem Logischen und dem nicht Erklärbaren entsteht. Wie steuert uns unser Unterbewusstsein? Ich denke, das ist am Ende das wirklich Interessante im Leben (lacht.)  – Meine Kunst sollte ein Denkanstoß dazu sein!

WANN: Die Ausstellung “The Curse of Minerva” ist bis einschließlich Samstag, den 26. März, zu sehen.
WO: Ciaccia Levi, 34 rue de Turbigo, 75003 Paris, France.

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