Sie wächst und tobt “Downtown re-imagined: abjection and shoplifting” im Chess Club
29. Mai 2024 • Text von Katrin Krumm
Im Chess Club entsteht eine neue Metropole. Zwischen dem monströsen Femininen, das seinen Platz ganz selbstverständlich belegt, finden sich Bürgertum, Berühmtheiten, Einfluss, Überfluss, Kleptomanie, Zerstörung und Kreation. Gemeinsam bilden sie die Pfeiler der neu erbauten Stadt – kollektiv imaginiert von Clara Schmidt, Luise Scarlett Thiele und Sasha Lukashenkova.
Ganz in der Nähe zum Neuen Wall befinden sich in Hamburg die weniger bekannten Colonnaden. Der Straßenzug in der Nähe der Binnenalster zeugt von ehemaligem Glanz: Früher lud er zahlreiche Tourist*innen zum Flanieren in seiner breiten Fußgängerzone ein.
Heute herrscht dort, bis auf vereinzelte italienische Restaurants, recht wenig Treiben. Dem Leerstand zum Trotz wächst in einer der ehemaligen Ladenzeilen etwas Neues empor: Minimal durch weiße Podeste vom Boden abgehoben sitzt die neu erbaute Stadt von Clara Schmidt, Luise Scarlett Thiele und Sasha Lukashenkova. Sie hat sich für den Anlass schick gemacht. Ihr Selbstbewusstsein steht im Kontrast zu der heruntergekommenen arkadenartigen Straße, in deren Überbleibseln sie sich eingenistet hat.
In den neuen Räumlichkeiten des Chess Clubs steht eine Modellstadt, die Hamburgs Größe übersteigt. Dort steht Hochhaus neben Hochhaus, Wirtschaftsgebäude reihen sich neben Hotels und Luxusmarken und auf den Vorplätzen sind repräsentative Skulpturen platziert: Es ist die Silhouette einer Metropolregion. Die Fassaden sind ausgeschmückt mit bunten Objekten, sie glänzen, triefen, sind schräg. Manche davon imitieren das Körperliche, sie tragen Hüte und haben Füße als Sockel. In der Stadt werden Körper zu Gebäuden und dadurch objektifiziert. Ein materielles Begehren liegt in der Luft.
Es vermischt sich mit dem schweren Ledergeruch, der sich im tiefroten Teppichboden des ehemaligen Ladengeschäfts festgesetzt hat und fügt sich in die vielen weiteren Spuren der Vornutzung des Raumes ein. Auf diese Weise überträgt sich automatisch die Idee des Displays und des Präsentiertwerdens auf die Modellstadt.
An den Wänden befinden sich zahlreiche gläserne Regalböden und in den Schaufenstern, die zur Straße zeigen, wurden transparente Podeste aus Acryl platziert, auf denen vereinzelt Häuser stehen. Sie wirken fast vorstädtisch.
Die Stadt in ihrer Gesamtheit scheint sich noch in der Transformation zu befinden: Sie krallt sich links und rechts aus ihrer Umgebung alle Materialien, die sie finden kann, um sich selbst auf noch wackeligen Beinen emporzuheben. Historische Referenzen aus DDR-Filmen (Solo Sunny), Literaturklassikern (Fear and Loathing in Las Vegas), Referenzen zur jüngeren Kunstgeschichte (“Gerhard Richter is dying”), Luxusmarken, Zitaten und Briefmarken. Auch materiell setzt sie sich über konzeptionelle Grenzen hinweg, nimmt sich Brot, Acrylnägel, Plastikreste, wechselt zwischen organisch und künstlich – irgendwie hält alles provisorisch zusammen.
Wenn schon nicht ausschließlich materielle Wohlstandsversprechungen, gibt es zumindest Material im Überfluss und ein Überschuss an Utopien – ein Angebot, das unmittelbar vom Publikum angenommen wird. Am Abend wird viel geträumt und über den Ort selbst gesprochen. Vor allem die Abstraktion, die das Betrachten von Modellen mit sich bringt, wirkt auf die Besuchenden und löst eine Diskussion aus: Wer will in welchem Haus wohnen und warum, dann die Diskussion, dass man nicht ins Intercontinental einziehen kann und so weiter.
Wie riesige Versionen ihrer selbst laufen die Betrachter*innen durch die Stadt, sagen Dinge wie: „S. ist die Bürgermeisterin der Stadt“ – alle werden leicht größenwahnsinnig. In der Arbeit mit Modellen, beziehungsweise Miniaturen, entsteht ein denkerischer Grössenwahn, indem spielerisch konstruiert werden kann. Vielleicht gibt es deshalb das fiktionale Narrativ gigantischer Kreaturen, die im Zerstörungswahn ganze Städte platt machen. In „Doing Time“ tritt Lana Del Rey als gigantische Version ihrer selbst aus dem Screen heraus, der sich mitten in einer Autokino-Vorstellung befindet und begegnet dort ihrem bürgerlichen Selbst. Kreation, Zerstörung und das Weibliche liegen hier nah beieinander.
Das Schöne ist, dass sich auch die Materialität auf den Entwurf bezieht: die Modelle selbst bleiben kollektiv geträumte, spielerische Experimente: der materialisierte Gegenentwurf zum männlichen Geniedenken, der oft im Städtebau zu Tragen kommt.
Dieser Gegenentwurf ist auch bestimmt durch die Integration dessen, was sonst aus Selbstschutz aus einer Gesellschaft ausgestossen wird: Einige der Gebäude tragen Namen wie “Kleptomania Monument” und “Substance Abuse Pavillon”, aber auch: “Best Friends House” oder “The Caretakers House”. Inmitten einer Performance des Weiblichen scheint die Stadt zu sagen: Ihr alle findet hier Platz.
WANN: Die Ausstellung “Downtown re-imagined: abjection and shoplifting” läuft noch bis Freitag, den 31. Mai.
WO: Chess Club, Colonnaden 72, 20354 Hamburg.