Es war einmal und ist noch immer
Cemile Sahin in der Kunsthalle Osnabrück

20. Februar 2023 • Text von

Die Kunsthalle Osnabrück fragt mit ihrem Jahresthema „Romantik“ nach der Rückbesinnung auf Motive der Epoche in Zeiten der Krise. In diesem Rahmen erzählt die Ausstellung „A Song of Tigris & Euphrates“ von Cemile Sahin die Geschichten von Menschen, deren Lebenswege durch den Bau des Atatürk-Staudamms verbunden sind – und getrennt werden. Die Künstlerin hinterfragt mit ihrer Arbeit die Deutungshoheit über Erzählperspektiven politischer Realitäten. (Text: Hannah Walter)

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Cemile Sahin, „A Song of Tigris & Euphrates“, Installationsansicht Kunsthalle Osnabrück, 2022. Foto: Friso Gentsch.

Grelle Wandbilder brechen mit den matten Farben des Kirchenschiffs. In Neonfarben zeigen sie übergroße Collagen aus Bildmaterial, das aus Nachrichtenberichten stammen könnte: Menschen auf den Straßen, Zivilbevölkerung gegenüber Polizeieinheiten; im Zusammenspiel mit Landschaftsbildern, Blumenwiesen und Meer. Die Bilder umkleiden eine Tribüne und eine kinogroße Leinwand, auf dem Cemile Sahins Kurzfilm „Frühling“ läuft, der erste Teil der Reihe „Vier Balladen für meinen Vater“. Der Film bildet den Mittelpunkt ihrer Ausstellung „A Song of Tigris & Euphrates“.

„Frühling“ erzählt die fiktive Geschichte der kurdischen Familie Bingöl. Sie verknüpft sich um die Produktion eines französischen Dokumentarfilms, der den Bau des Atatürk-Staudamms und dessen soziale Auswirkungen untersucht. Im Rahmen des Südostanatolien-Projekts entstand ab den 80er-Jahren der Atatürk-Staudamm, der bessere Lebensumstände und Fortschritt durch landwirtschaftliche Nutzbarmachung von Tigris und Euphrat versprach. Die Bewohnenden der kurdisch besiedelten Gebiete – unter ihnen die Familie Bingöl – wurden vertrieben, die Landschaften überflutet. Verwoben in die episodische Erzählung sind Interviewaufnahmen der Film-im-Film-Dokumentation und Found-Footage-Material, das auf Innenleben und Erinnerungen der Protagonist*innen verweist.

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Sahin_2, Sahin_6, Sahin_11: Cemile Sahin, „FRÜHLING ¬¬– VIER BALLADEN FÜR MEINEN VATER“, Film-Still, 2022. Courtesy die Künstlerin und Esther Schipper, Berlin Paris.

Eine der Protagonist*innen ist Leyla. Sie blickt aus dem Fenster ihrer Wohnung im Pariser Exil. Ihr Blick richtet sich auf wackeligen Aufnahmen von Bombenangriffen und Polizeigewalt; Panzer fahren durch die Straßen, Häuser werden gestürmt. Die Zukunft ist ungewiss – ungewiss wie der Aufenthaltsort von Hasan, Leylas seit 26 Jahren verschollenem Ehemann. Im Interview erzählt sie, er sei festgenommen worden. Sie versucht, Kontakt aufzunehmen, bis die Polizei berichtet, er sei durch einen Sprung ins Wasser gestorben. „Ich höre nicht auf, nach Hasan zu suchen“, sagt Leyla. „Menschen rechtfertigen, was sie akzeptieren. Sie rechtfertigen das Schicksal, Gott oder einen Staat. Alles Dinge, die einen missachten.“

„Frühling“ zeigt kollektives Vermissen. Vermisst werden Menschen, vermisst wird auch das ehemalige Zuhause. VHS- und Handyaufnahmen zeigen Berge und Wiesen, Bäume, die im Wind wehen wie verzerrte Erinnerungen, und immer wieder das Wasser, das alles in sich ertränkt.

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Cemile Sahin, „A Song of Tigris & Euphrates“, Installationsansicht Kunsthalle Osnabrück, 2022. Foto: Lucie Marsmann.

Ece teilt sich ihr Zimmer in Istanbul mit Dicle, Leylas Tochter, die, gerade aus türkischer Haft entlassen wurde und das Land nicht verlassen darf. Ece will wissen, was sie verbrochen haben soll. Dicle schweigt. Sie hält ihr Buch „Kûçik hemû dimirin” in den Händen. Aus dem Kurdischen übersetzt heißt das „Alle Hunde sterben“. Es ist der Titel von Sahins 2020 erschienenem Roman, der Geschichten von Opfern türkischer Folter in ihrer Brutalität sprachlich zu greifen versucht. Stattdessen erzählt Ece Dicle ein Märchen.

Die Kunsthalle Osnabrück fragt mit ihrem derzeitigen Jahresthema nach der Rückkehr der Romantik in Krisenzeiten. Sahin greift das Sujet auf und verwebt nationalistische Rückbesinnung, Natur als Sehnsuchtsort und den Wunsch nach Zugehörigkeit in einer lebensfeindlichen Welt.

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Cemile Sahin, „A Song of Tigris & Euphrates“, Installationsansicht Kunsthalle Osnabrück, 2022. Foto: Lucie Marsmann.

Es war einmal eine Familie in einer Geschichte über Gut und Böse, über Wahrheit und Gerechtigkeit, über Strafe und Schuld. Wer erzählt die Geschichte als eine vom Aufstieg, wer als Tragödie? Wer spricht über Unterdrückung, Vertreibung und Gewalterfahrungen im autoritären Staat? Welche Rolle spielen propagandistische Nachrichtenbilder?

Wie Andrzej Steinbach in der parallel gezeigten Ausstellung „Verschont mein Haus, zündet andere an“ stellt Cemile Sahin essentialistische Deutungshoheiten über politische Realitäten in Frage. Anders als bei Steinbach allerdings, rückt bei Sahin ein Ohnmachtsgefühl in den Vordergrund, das durch die individuellen Traumatisierungen der Protagonist*innen getragen wird.

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Cemile Sahin, „A Song of Tigris & Euphrates“, Installationsansicht Kunsthalle Osnabrück, 2022. Foto: Lucie Marsmann. // Cemile Sahin, „A Song of Tigris & Euphrates“, Installationsansicht Kunsthalle Osnabrück, 2022. Foto: Lucie Marsmann.

Die episodische Erzählung lässt die Verknüpfungen der Figuren untereinander erst nach einiger Zeit ersichtlich werden, unterstreicht aber deren individuelles Erleben. Deutlich wird die Alltäglichkeit der Konfrontation mit autoritärer Staatsmacht und wie mehrere Generationen bis heute unausweichlich mit Unterdrückung, Vertreibung und Polizeigewalt verstrickt sind. Und in jenem Moment, in dem sie sich über dokumentarische Aufarbeitung ein mediales Sprachrohr beinah erobern können, schlägt das Schicksal wieder zu.

Die Sehnsüchte der Familie Bingöl, zwischen Hoffnung, Akzeptanz und Nostalgie verortet, offenbaren sich bei Sahin fern von jeglichem Kitsch als Suche nach Anerkennung der individuellen Geschichte. Das collagierende Zusammenspiel der Filmgenres verleiht ihrem Film Leichtigkeit und lässt ihn kurzweiliger wirken, als es 44 Minuten auf einer Museumsbank sitzend vermuten lassen.

WANN: Die Ausstellung „A Song of Tigris & Euphrates“ von Cemile Sahin ist noch bis Sonntag, den 5. März, zu sehen.
WO:
Kunsthalle Osnabrück, Hasemauer 1, 49074 Osnabrück.

Diese Ausstellungsbesprechung ist im Rahmen eines von Mira Anneli Naß und Radek Krolczyk im Wintersemester 2022/23 geleiteten Praxisseminars zu Kunstkritik im Master Kunstwissenschaft und Filmwissenschaft der Uni Bremen entstanden. 

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