Jeder Tag ein Sieg über den Tod Camille Henrot bei Kamel Mennour
1. Juni 2022 • Text von Teresa Hantke
Inwieweit wird unser Charakter bereits vor der Geburt geprägt? Welche Verhaltensregeln sollte man schon als Kind befolgen? Mit einer Bandbreite an psychologischen Sujets hat sich die französische Künstlerin Camille Henrot für ihre vergangene Ausstellung “Le vers dans le fruit” in der Galerie Kamel Mennour auseinandergesetzt. Wir sprachen mit ihr über Psychoanalyse, die Satire in den Werken Sigmar Polkes und die richtige Etikette.

Einige der ausgestellten Gemälde aus deiner Serie “Soon” in “Le vers dans le fruit” zeigen Fötusse von Tieren oder Menschen, für die du dich von Ultraschallbildern hast inspirieren lassen. Die Ausstellung dreht sich unter anderem um das Thema “widersprüchliche Erfahrungen des Innenlebens”, um nonverbale und vorsprachliche Ausdrucksformen. Laut dem Schweizer Psychotherapeuten Dr. Franz Renggli ist die vorgeburtliche Prägung einer der wichtigsten für die spätere Ausbildung unseres Charakters. Spielt diese unwillkürliche Prägung eine Rolle in deinen Arbeiten in dieser Ausstellung?
Camille Henrot: Ja. Für diese Serie hat mich außerdem ein Buch der französischen Psychoanalytikerin Françoise Dolto inspiriert, “La difficulté de vivre” (dt. “Die Schwierigkeit zu leben“), welches ich wirklich wunderbar fand. Dolto spricht davon, wie alles, was während der Schwangerschaft geschieht, vom Kind erinnert wird. Manchmal geht das sogar so weit, dass sich das Kind später, bei sehr traumatischen Ereignissen, wie beispielsweise dem Verlust eines Elternteiles, an die letzten Sätze erinnern kann, die es noch von seiner Mutter gehört hat.
Das finde ich sehr interessant. Das ist wie ein Abdruck, den man unfreiwillig erhält und von dem man sich eigentlich nie lösen kann, oder?
Es handelt sich natürlich auch um diffuse Eindrücke, weshalb mich dieses Sujet derart fasziniert hat. Das ist ein Terrain, das mit Worten kaum zu erfassen ist. Letztendlich ist diese Erinnerung, die wir von uns vor der Geburt haben, für uns nicht zugänglich – die Eindrücke hingegen schon. Der Eindruck von Gefahr, Kälte, Verlassenwerden oder auch im Positiven von Wärme, Fürsorge, Präsenz oder Liebe. All diese Eindrücke bleiben.

Deine Gemäldeserie “Soon” kann auch als in Bilder umgesetzte Klänge betrachtet werden. Kannst Du mehr davon erzählen?
Neben dieser unfreiwilligen Prägung, interessierte mich in Bezug auf unser pränatales Dasein die Bildwerdung von Sonographie. [Ein bildgebendes Verfahren, das durch Ultraschall erzeugt wird und als Standardverfahren in der Schwangerschaft gilt; Anm. d. Redaktion] Die Sonographie ist wie eine Fotografie, nur dass der Klang die Rolle des Lichts übernimmt. Das war insofern inspirierend, weil ich beim Malen viel mit Musik arbeite. So habe ich versucht, Eindrücke dieses pränatalen Daseins wiederzufinden – ich glaube, dass dieses eine entscheidende Rolle im Leben spielt, ohne dass man dazu wirklich Zugang erhalten kann. Ein Teil von “Soon” behandelt die Suche danach, der andere zeigt die Imagination davon. Schließlich sind diese beiden Welten, das Imaginäre und das pränatale Leben miteinander verbunden.
Welche Rolle spielt das “Imaginäre” bezüglich der pränatalen Prägung?
Im Prinzip weiß jeder, dass schwangere Frauen verletzlicher sind, was auch die französische Psychoanalytikerin Monique Bydlowski in ihrem Buch “Devenir mère” (dt. “Mutter werden”) erklärt. Laut Bydlowski ist man neben dem echten auch mit einem imaginären Kind schwanger. In Wirklichkeit ist dieses imaginäre Wesen nämlich das Kind, von dem man, als man selber Kind war, geträumt hat. Dieses imaginäre Kind wird aber nie geboren. Wenn das echte Baby also geboren wird, muss man um das imaginäre trauern. Denn das Kind, das geboren wird, ist komplett anders, als man es sich vorgestellt hat. Eine Frau, die sagt, es sei genau das Kind, das sie sich im Vorhinein erträumt habe, verleugnet ihr wahres Kind. Es ist wichtig, zwischen dem imaginären und dem realen Kind zu unterscheiden, damit sich das reale Kind frei entfalten kann. Meine Bilder handeln also nicht von einer tatsächlichen Schwangerschaft, sondern sind Vorstellung eines Kindes vor der Geburt. Deshalb entstehen auch diese völlig hybriden Formationen.

Tatsächlich, in der Ausstellung bei Kamel Mennour hatte ich einen kleinen Dinosaurier auf einem der Gemälde gesehen!
Es ist interessant, dass du einen Dinosaurier gesehen hast. Der Dinosaurier gilt ja als Ursprungstier und existierte vor der Trennung aller Spezies. Diese Frage nach dem Ursprung unserer Existenz fand ich schon immer spannend. Ähnlich wie in “Grosse fatigue” [„Grosse fatigue“ ist der Titel einer Videoarbeit von Camille Henrot mit der sie auf der 55. Biennale von Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde; Anm. d. Red.]. Mich beschäftigt die Frage nach wie vor: Was passierte ganz am Anfang?
Bei Kamel Mennour zeigst du auch Gemälde aus der Serie “Dos and Don’ts”. Woher kam die Idee dazu?
Ursprünglich ist die Idee zu dieser Serie durch einen Auftrag für eine Ausstellung mit der Sigmar-Polke-Stiftung entstanden. Als ich 2020 aus den USA zurückkehrte, arbeitete ich zuerst von unserem Zuhause in Frankreich. Überall lagen Stapel von Büchern, die ich aussortiert habe, um etwas Platz zu schaffen. Die ersten Bücher, dich ich auf den Stapel zum Wegwerfen gelegt habe, waren alte Bücher über Etikette und gutes Benehmen. Gleichzeitig habe ich darüber nachgedacht, was ich für die Sigmar-Polke-Stiftung machen könnte und dann kam mir, dass diese Sätze über gutes Benehmen wie, “Don’t adopt the common habit of calling everything funny”, und die Werke von Sigmar Polke, die ein wenig erotisch und satirisch sind, gut zusammenpassen. Genauso wollte ich mit digitalen, gedruckten und gemalten Bildern als Trompe-l’oeil arbeiten. Die Hand ahmt die Technik nach und auch andersrum.

Was ist die Verbindung zwischen den Serien “Dos and Don’ts” und “Soon”?
Die Verbindung beider Serien ist die Sprache. Wörter, die vor unserer Geburt existieren und welche unsere Erziehung bestimmen. Bei der Geburt gibt es eine ganze Reihe an “Rahmenbedingungen” und später ist die Erziehung eines Kindes durch allerhand Benimmregeln geprägt. Kinder sind diesem Erziehungsrahmen völlig unterworfen. Diese Regeln zu akzeptieren bedeutet auch ein großes Gefühl der Hilfslosigkeit für sie.
Mir gefällt, dass du eine Verbindung herstellst, zwischen Gemälden, die sich mit Sprache befassen, und Gemälden, die zwar nicht direkt durch Sprache, aber durch Klänge entstehen.
Ja, bei “Dos and Don’ts” sind Fragmente der Sprache eingebaut und die Sonographie besteht ja aus Ton-Fragmenten. Schließlich ist die Schwangerschaft ein Moment, der extrem wichtig ist und im Laufe des Lebens einer Frau sehr schnell vorüber ist. Für einen selbst ist jedoch jeder Monat, der vergeht, ein großes Ereignis. Jeder Tag bedeutet einen Sieg über den Tod. Das ist es, was Menschen so daran feiern! Diese andauernde Unsicherheit, die Tatsache der Zerbrechlichkeit ist unterschwellig auch ein Thema der Ausstellung.

Auf einigen Gemälden von “Soon” ist überhaupt nichts mehr zu sehen. Sie sind quasi leer. Was kannst du darüber sagen?
Diese Bilder ähneln den Sonographie-Bildern von Fehlgeburten. Alle Töne sind gelöscht. Dabei kommt es bei diesen Ultraschallbildern ganz darauf an, wer sie betrachtet. Man wird eigentlich nur davon berührt, wenn man eine Verbindung dazu hat. Ansonsten sind diese Bilder ja ein bisschen wie ein Rorschach-Test. Sie müssen entschlüsselt werden. Das Bild selbst ist ein Code, da es aus Tönen zusammengesetzt ist. Es ist kein echtes Bild, auch keine Fotografie. Dieser Code ist auch eine Verbindung zwischen “Soon” und “Dos and Don’ts”. “Soon” ist ein Bild, das durch einen Code zusammengesetzt ist – “Dos and Don’ts” greifen diesen Code an.
Für “Le vers dans le fruit” hast du mit den Szenographen Adam Charlap Hyman & Herrero, zusammengearbeitet, die die Tapete entworfen haben. Ich finde die Idee mit dem dargestellten Vorhang sehr passend zur Thematik. Wie kam es dazu?
Von Anfang an hatte ich Adam, einen Freund aus New York, zu dieser Ausstellung eingeladen. Wir hatten schon einmal eine Ausstellung mit dem Titel “Blow Up” in der Galerie Friedman Benda gemacht und mich hatte seine Arbeit damals begeistert. In meinen Augen war es wichtig, etwas zu gestalten, das die etwas düstere Dimension, das Meditative dieser Werke unterstreicht. Ich wollte eine komplett weiße Raumgestaltung vermeiden, sondern einen realen Innenraum schaffen. Ähnlich wie die Gemälde, die das Innere des Geistes nach außen kehren. Es ist wie ein häuslicher Raum, der uns willkommen heißt. Die Inspiration für das Vorhang-Ähnliche kam unter anderem hier aus dem Atelier (sie zeigt auf einen Teil der Wand in ihrem Atelier, an dem die Tapete in Streifen heruntergerollt ist). Es ist lustig, weil das Bild des Vorhangs letztendlich von Adam kam und mir super treffend erschien, weil es in seiner Erscheinung auch an ein weibliches Geschlechtsteil erinnert. Außerdem gibt es ein Bild von Louise Bourgeois von 1950, das ich entdeckt hatte und das dem auch ein bisschen ähnelt!

Neben Adam Charlap Hyman & Herrero hast du auch Elisabeth Jaeger und Estelle Hoy eingeladen, mit dir bei Kamel Mennour auszustellen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Elisabeth ist eine gute Freundin und war in New York meine Nachbarin. Ihre Skulpturen passen sehr gut zu den meinen. Da herrscht eine gute Verbindung. Ihre Figuren sind wie “erwachsene Föten”. Sie sind müde, schlafen, essen, rauchen, streiten. Und trotzdem befinden sie sich wie in einer Art Container eingeschlossen. Und Estelle Roy ist eine Freundin aus Berlin. Nachdem wir fast jeden Tag miteinander sprechen und in regem Austausch stehen, erschien es mir sinnvoll, sie auch einzuladen. In ihren Texten verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Fiktion. Die Grenze ist porös – das passte zum Sujet!

Du hast von dem Code in deinen Bildern gesprochen, der unter anderem die Verbindung zwischen den beiden Gemälde-Serien bedeutet, gibt es auch einen Code, der sich hinter den Skulpturen verbirgt?
Die Skulpturen haben eine andere Bedeutungsebene. Ich frage mich übrigens immer noch, was mich begeistert hat, Skulpturen zu machen, die eine mathematische Komponente in sich tragen. Alle zeichnen sich aus durch diese geringe Anzahl von elementaren Elementen wie dem Messer und dem Apfel. Die elementare Geste der Skulptur ist ja das Schneiden. Und weil wir eben von Louise Bourgeois sprachen – das ist eine Geste, auf die Bourgeois ebenfalls oft Bezug nimmt, insbesondere in ihren Werken wie “Femme Couteau”. Die Äpfel erinnern ein wenig an Stillleben, wie in den Gemälden Cézannes, und dann habe ich die sprachliche Verbindung zwischen “Cézanne” und Kaiserschnitt [auf französisch: “césarienne”; Anm. d. Red.] entdeckt – das ist eine komplett identische Phonetik! Die Art und Weise, wie man etwas sagt, ohne es wirklich sagen zu wollen, ist selbst eine phonetische Verschiebung. Cézanne, “césarienne”; was bedeutet eigentlich was am Ende? Ist die “césarienne” ein Gemälde von Cézanne? (lacht) Außerdem ist der Apfel ja das Objekt, das man nutzt, um Zählen zu lernen. Und er suggeriert gewisser Weise auch ein Bild des Teilens und der Fürsorge. Eine Frucht – einen Apfel für ein Kind zu schälen, das ist ein Liebesbeweis!
WO: Die Ausstellung “Le vers dans le fruit” lief bei Kamel Mennour von Februar bis Ende Mai 2022 und ist noch hier online zu sehen.