Brüchiges Porzellan
Julia Beliaeva im OK Linz

15. Mai 2023 • Text von

Das makellose Weiß der glatten Porzellanskulpturen trügt. Meist dort, wo auf den ersten Blick nicht ersichtlich, nisten sich in Julia Beliaevas 3-D-generierten Werken Hunger, Leid und Tod ein. So kreist die Ausstellung „Fragile City“ im OK Linz rund um Parameter des Erinnerns und Vergessens, die vor dem Hintergrund des grausamen Krieges in der Ukraine noch eindringlicher und dringlicher wirken. (Text: Florian Gucher)

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Julia Beliaeva, OK Linz, “Fragile City”, 2023 © Michael-Maritsch.

Aufwendig bemalte Objekte eines Johann Caspar Ripp, geschwungene Formensprachen, Vasen oder glänzende Figurenpaare im Rokokostil Jean-Claude Chambellan Duplessis und Johann Joachim Kändlers? Kostbare Gefäße, wie sie in historischen Sammlungen zu sehen sind? Keramik kann auch anders, hipper und vor allem gerechter. Wie, das zeigt Künstlerin Julia Beliaeva derzeit im OK Linz mit digital modellierten Modellen, die von Gmundner Keramik und Roland Hüttmayr aufwendig zu physischen Skulpturen gebrannt wurden.

Beliaeva nimmt dem keramischen Material seine Unbescholtenheit. Sie setzt das einstige Luxusgut zur Repräsentation all jener ein, denen es verwehrt blieb, und verhilft ihnen so zur Sichtbarkeit. Die Eleganz des Materials nutzt sie, um mit ihr zu brechen. Werkstoff und Inhalt divergieren, Ungleichheit und Ausbeutung werden kenntlich gemacht und symbolisch korrigiert.

Der Blick haftet an einem kleinen Mädchen in verzweifelter Pose, dessen einzige Bedeckung ein über Hüfte, Schulter und Ohren gezogener Mantel ist. Barfuß steht es da. Das Material verleiht der Skulptur eine Anmut, die dem eigentlichen Erscheinungsbild zuwiderläuft. Da aus edlem Biskuitporzellan bestehend und von seidig-mattem Glanz überzogen kann sich ihr zerlumptes Äußeres nicht durch das Material selbst äußern, dem setzt aber der Kontrast zwischen Form und Inhalt entgegen. Auch der spiegelnde Boden, die Räumlichkeit an sich, dissoniert mit der Skulptur. Ist das dargestellte Mädchen hier so zentral im Raum positioniert, wurde dasselbe im wirklichen Leben an den Rand gedrängt.

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Julia Beliaeva: “Seeing Is Believing”, OK Linz, “Fragile City”, 2023 © Michael-Maritsch.

Die Porzellanplastik trägt den sprechenden Titel „Legs Like Canes/Seeking is Believing“, eine Anspielung auf die verwundete Volksseele der Ukraine. In diesem Zusammenhang muss man auch wissen, dass sie einer Dokumentarfotografie eines am Straßenrand stehenden Kindes von Alexander Wienerberger entlehnt ist. Wienerberger war es, der fotografisch als Augenzeuge des „Holodomor“, der großen Hungersnot in der Ukraine in den 1930er Jahren, Beweise am Genozid des ukrainischen Volkes lieferte.

Für die ukrainische Künstlerin Beliaeva ist das Mädchen mit ihren dürren Beinen alles andere als identitätslos, es schreibt sich in die individuelle Familiengeschichte, in die Erzählungen ihrer Großmutter, ein. Es macht als Skulptur und Mahnmal kollektives Gedächtnis und persönliche Erinnerung dingfest. Mit dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs in der Ukraine aber ist es zum Mädchen geworden, das nicht mehr nur der Vergangenheit, sondern auch dem Hier und Jetzt angehört. Geschichte und Gegenwart sind so im ständigen Dialog begriffen, das liegt Beliaevas Verständnis zugrunde.

Der Weg durch den Hauptausstellungsraum der ehemaligen Klosterschule führt an zwei an sowjetische Plattenbauten erinnernde Kachelöfen vorbei, die mit Irritationsmomenten arbeiten. Ob es Panel-Houses sind, die typischen Plattenbauten der Sowjetära, oder doch Kaminöfen, weiß man nicht so genau. Es tut auch nichts zur Sache, denn der Kontrast dieser wohligen, für gewöhnlich Wärme und Behaglichkeit schenkenden Gebilde zu den im Krieg anfälligsten Behausungen gewöhnlicher Bürger:innen, die den tagtäglichen Bombardierungen nur schwer standhalten, macht es aus. Utopien des 20. Jahrhunderts, symbolisiert in den modernistischen Architekturen, prallen auf vergangene und gegenwärtige Realitäten.

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Julia Beliaeva: “Social Meditation”, OK Linz, “Fragile City”, 2023 © Michael-Maritsch.

Der Gedanke spinnt sich weiter, vom existenzraubenden Leid bis hin zu den über das Land hinauswirkenden Energiekrisen, wobei dann schnell die Dualität des Kaminofens ersichtlich wird. Bei genauerem Betrachten wird einem gewahr, dass die vordergründig blanken Oberflächen so unschuldig nicht sind. Der glatte Schimmer ist bloßer Schein.

Auch nimmt man erst nach einer Zeit die Details, die einzelnen, rußigen Brandspuren der Arbeit Fragile City #1 wahr, wiewohl die nebenstehende Skulptur Fragil City #2 als unmittelbare Referenz in ihrer schwarzen Einfärbung bereits gänzlich ausgebrannt scheint. Doch mutet sie erhaben an. Die Ästhetik täuscht abermals über das Leid hinweg, aber lässt es im nächsten Atemzug umso drastischer emporkeimen. Narben des Krieges werden als banale Muster miteingeflochten, wie sie nun zum Alltag in der Ukraine gehören.

Nicht unmittelbar ersichtlich, doch fundamental, sind auch die sich im Sockel befindlichen, vornehmlich in sozialen Netzwerken aufgegriffenen Motive aus dem Ukraine-Krieg. Unter ihnen: flüchtende Kinder, geschändete Tote aus Irpin, Explosionen, die „Arm-Ukraine-Now“-Bewegung, ukrainische Soldaten, Leichensäcke bis hin zu täglichen Ansprachen Wolodymyr Selenskyjs. Es ist Beliaevas Ziel, „etwas“ aus dem fluiden Informationsstrom manifest zu machen. So haben sich die Figurationen als Ereignisse in das Werk eingebrannt, gerade weil sie in der Dauerschleife der digital übertragenen Geschehnisse des Krieges leicht entgleiten können.

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Julia Beliaeva, OK Linz, “Fragile City”, 2023 © Michael-Maritsch.

Bemerkenswert ist auch, wie Beliaeva Geschichten hinter Porzellan und Steingut als keramische Werkstoffe in Erzählung und Darstellung miteinbettet: So stechen diese durch Zerbrechlichkeit bei gleichzeitiger Widerstandskraft hervor und lassen in ihrer Konsistenz Verbindungen zur Ukraine selbst ziehen. Nicht zu vergessen ist auch der Link zur ukrainischen Porzellanindustrie, die in dieser Form zwar nicht mehr existiert, weil sie in andere Teile der Welt ausgelagert wurde, aber Erinnerungen geprägt hat.

Das Interesse Beliaevas an Porzellanfiguren führt letztlich auch dazu, dass sie auf die Historie der verlorengegangenen Manufakturen wie Kyiv Ceramic aufmerksam machen möchte. Doch diese tauchen weniger in ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild auf, sondern wiederverwertet, angepasst, übertragen sowie dem Dialog mit dem Gegenwärtigen suchend. Darauf verweisen in der Ausstellung digitalisierte Porzellanfiguren aus der Sowjetzeit, die sich als Animationen auf den Monitoren auftun, dabei paradoxerweise entmaterialisiert und zeitgleich archiviert werden.

Wie auf einem Drehteller werden die Animationen zu zeitlich und materiell fluiden Wesen, die sich in Zwischenräumen bewegen. Am Ende bleibt das die Ausstellung abschließende Animationsvideo „Heros of the City“ im Gedächtnis hängen: Eine jugendliche Skater-Community der 90er eignet sich darin sowjetische Monumente der Vergangenheit an. Ihr Handeln ist subversiv, hatte großen Anteil am Aufbruch der russischen Vorherrschaft. Im Video zu sehen ist beispielsweise ein Obelisk, der als 3-D-Plastik nicht mehr so heroisch wie sein Alter Ego aus Stahlbeton am Galizischen Platz anmutet, sondern zerbrechlicher und widerspenstiger. So wird Geschichte durch das Moment veränderbarer Deutungshoheit zum fluiden Narrativ ohne Anfang und Ende.

Zwischenraum ist schließlich auch das Stichwort, das „Fragile City“ ausmacht. Dem OK Linz ist ein echter Coup gelungen. Wie ein Faden spinnt sich die Verknüpfung scheinbar inkompatibler, doch ineinander verflochtener Komponenten – des edlen Porzellans mit der Tragik, des Gegenständlichen mit der virtuellen Realität – fort. Die Ebenen wurden dabei komplex, aber nicht zu schwammig gedacht: Gerade die Reduktion auf wenige, aktuelle, gezielt aufeinander abgestimmte Werke ist ein kuratorisch kluger Schachzug, so gibt sie der Ausstellung trotz der vielen aufpoppenden Querverbindungen vom Hungerwinter bis zu Skate-Kultur eine in sich geschlossene Struktur. “Fragile City” ist brandaktuell. Jedes Werk hier sucht, wenn auch noch so still und nachdenklich, seine Anknüpfungspunkte in der Gegenwart.

WANN: Die Ausstellung “Fragile City” von Julia Beliaeva läuft bis Sonntag, den 21. Mai.
WO: OK Linz, OK-Platz 1, 4020 Linz.