Brüchige Versprechen
Körper, Kontrolle und gesellschaftliche Konstruktionen bei WAF

17. April 2025 • Text von

Bandagiert, stabilisiert, zusammengeschweißt. Der Umgang mit dem menschlichen Körper spiegelt auf vielsagende Weise den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Istzustand. Wie fragil dieser geworden ist, zeigt die Gruppenausstellung „um fragile Affären“ mit Thilo Jenssen, Tamara Goehringer und Daniel Stubenvoll im Wiener Projektraum WAF. (Text: Maja Lisewski)

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Thilo Jenssen, Installationsansicht WAF Wien, Fotocredit © Philipp Pess, 2025.

Es gibt dieses stille, aber vertrauensvolle Übereinkommen: Man hilft, wenn jemand verletzt ist – sofern man sich dabei nicht selbst gefährdet. Ein beruhigender Gedanke, sollte man sich selbst einmal in einer verletzlichen Rolle befinden. Dieses Verhalten, beinahe Ausdruck eines Urvertrauens, gründet auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und ist sogar gesetzlich verankert. Als erstes aktives Handeln im Ausnahmezustand kann es entscheidend sein, manchmal lebensrettend.

Eine visuelle Anleitung zur Ersten Hilfe dient Thilo Jenssen als sogenanntes found image. Seine Arbeiten „Reenactments (IV)“ und „Reenactments (V)“ zeigen anonymisierte Fotografien. Zu sehen sind jeweils Arme, mehrfach bandagiert. Der Bildausschnitt beschneidet die Körper stark, nur der Rumpf bleibt sichtbar. Was als technische Instruktion gedacht ist, kippt in Jenssens Inszenierung in einen Moment subtilen Humors. Die Simulation der Ernsthaftigkeit offenbart ihre Fragilität.

Diese Ambivalenz setzt sich in Jenssens Metallbildern fort. Formal erinnern sie an abstrakte Farbfeldmalerei. Stahlplatten unterschiedlicher Form und Größe, monochrom lackiert, sind nietenartig mit Schweißpunkten auf Aluminiumrahmen fixiert. Fragmentiertes wird verbunden. „Re-Formations (Westbhf)“, in Sichtachse zu den „Reenactments“, greift deren Farbpalette auf. So entsteht eine medienübergreifende Verbindung.

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Thilo Jenssen: Re-Formations (Milleniumcity), Fotocredit © Philipp Pess, 2025. // Thilo Jenssen, Installationsansicht WAF Wien, Fotocredit © Philipp Pess, 2025.

Kompositionen aus Orange und Grün, Gelb und Grau speisen sich aus Farbcodes des öffentlichen Raums – Erste-Hilfe-Koffer, U-Bahn-Linien. Als Hilf- und Leitsystem dienen sie der Orientierung, zugleich wohnt ihnen der Aspekt der Hierarchie inne, beispielsweise während der unweigerlichen passiven und aktiven Aufteilung bei medizinischen Hilfestellungen. Ebenso wird der menschliche Körper mit Schildern und Hinweisen kaum merkbar wie in einer Choreografie durch den öffentlichen Raum geleitet.

In Jenssens Metallbildern heben die Schweißnähte beziehungsweise Punkte den Moment der Trennung ebenso wie jenen der Verbindung hervor, angesichts Temperaturen jenseits der 1700-Grad-Marke deutlich brutaler. Sie bezeugt als Markierungen, dass etwas einst getrennt war und hier in einer kompositorischen Anordnung so zusammenfindet, als sei es stets so vorgesehen gewesen.

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Tamara Goehringer – let’s play 04, Fotocredit © Tamara Goehringer, 2025. // Tamara Goehringer – let’s play 03, Fotocredit © Tamara Goehringer, 2025.

Die feministische Betrachtung des Körpers rückt die Künstlerin Tamara Goehringer in ihren zeichnerischen Arbeiten „let’s play 03“ und „let’s play 04“ auf Papier in den Fokus: In Vorder- und Rückansicht sind zwei weibliche Puppen in ihre Bestandteile zergliedert. Brave Gesichtszüge und Frisuren kollidieren mit übersexualisierten Elementen wie übergroßen, prallen Hintern und durchtrainierten Torsos samt stilisierten Schambereichen. Gepaart mit der historischen Züchtigkeit von Puppendarstellungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert mutieren die Figuren zu surrealen Körpern. In der Fragmentierung und erneuten Zusammensetzung des weiblichen Körpers erinnern sie an die fetischisiert dargestellten Puppen des Surrealisten Hans Bellmer. Die gequetschten Nähte an den Beinrückseiten vergegenwärtigen dagegen schmerzvoll die Realität und Zwänge weiblicher Objektifizierung.

Die Fragmentierung des Körpers ist kein genuines Phänomen zeitgenössischer Kunst. Bereits in der Moderne, so Linda Nochlin 1995 in ihrer Vorlesung „The Body in Pieces“, wurde die isolierte Darstellung von Körperteilen zum Sinnbild gesellschaftlicher und technologischer Umbrüche im 19. Jahrhundert. Sie reflektiert eine Ära der Vielstimmigkeit, Zersplitterung und Unsicherheit. Auch heute klingt in der isolierten Darstellung von Körperteilen eine komplexe Politik zwischen Kontrolle und Fetischisierung mit.

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Tamara Goehringer – DON JOY (or how to learn to walk to love), Fotocredit © Philipp Pess, 2025.

Der feministische Kommentar zur Objektifizierung des weiblichen Körpers, den Goehringer in ihren Zeichnungen formuliert, wird in ihrem technotextilen Wandobjekt „DON JOY (or how to learn to walk to love)“ um den Aspekt der Kontrolle des menschlichen Körpers im Allgemeinen erweitert. Eine Beinschiene entfaltet sich beinahe rabiat zu einer Figuration, die zwischen Korsett, Vulva und Schmetterling oszilliert. An einer Wand mit einer Vielzahl von Nägeln montiert, ist sie mit Strasssteinen versehen, während modellierte Lippen aus der Oberfläche hervortreten.

Die einstige medizinische Funktion des Objekts verschwindet. Aus dem Versprechen der Heilung wird ein technoider Fetischkörper – nicht länger Werkzeug, sondern Objekt der Projektion, konnotiert mit Begehren und ästhetischer Aufladung. Ein ironischer Glamour durchzieht die Arbeit: spielerisch und zugleich empathisch gegenüber der Realität jenseits des normierten, gesunden und funktionalen Körpers.

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Daniel Stubenvoll & Tamara Goehringer, Installationsansicht WAF Wien, Fotocredit © Philipp Pess, 2025. // Videostill “Hands and Feet on the Street” © Daniel Stubenvoll, 2025.

Wie mit verletzlichen Existenzen in der Öffentlichkeit umgegangen wird, untersucht Daniel Stubenvoll in seinem Film „Hands and Feet on the Street“. Im ersten Part des Filmes dokumentiert er die sogenannten A-Bombed Trees von Hiroshima, Bäumen, die 1945 die Atombombe überlebt haben. Teils vermeintlich gesund, teils hohl und gebrechlich, werden sie gestützt und stabilisiert – ähnlich wie die Menschen in Jenssens „Reenactments“.

Hiroshima wurde um diese Bäume herum neu aufgebaut. Sie agieren als stille Denkmäler der Katastrophe und zugleich als Mahnmal, dass es möglich ist, Körper jenseits gesundheitlicher Normen respektvoll und würdevoll in die Gesellschaft einzugliedern. Hiroshimas Umgang mit den Bäumen wird zur Reflexion eines sozialen Miteinanders und zur Erinnerung an die so häufige fehlende Rücksichtnahme im öffentlichen Raum auf Körper jenseits der gesundheitlichen Norm.

Der zweite Part des Films widmet sich der Geschichte des Boule-Spiels. Die heutige Spielweise entstand aus einer Anpassung: Als ein Spieler krankheitsbedingt den Anlauf nicht mehr nehmen konnte, passte man das Spiel an – der Wurf aus dem Stand wurde zur neuen und heute gültigen Regel. Eine Geste der Solidarität, die das Spiel nachhaltig prägte.

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Daniel Stubenvoll, Installationsansicht WAF Wien, Fotocredit © Philipp Pess, 2025.

Die Fragilität der verhandelten Themen spiegelt sich im Projektraum WAF auch in der Hängung wider. Sie entsagt einer streng kalkulierten Ordnung. So hängen vier Gemälde Stubenvolls dicht an dicht auf einer Wand. Ein Kontrast zu der im Gegensatz dazu fast isolierten Präsentation der restlichen Positionen. Diese hochformatigen Arbeiten gehören der Werkgruppe „in ruins“ an: Weiß auf Weiß sind architektonische Elemente wie Tore, Säulen und Fenster auf den Bildträgern zu sehen. Mesh, Jute und Leinwand dienen Stubenvoll hierbei als Material, um diese Bauelemente als Ausschnitte – dekonstruiert und collagiert – allein mit weißer Wandfarbe auf der Leinwand zu fixieren. Ergänzt werden drei der Gemälde um Scharniere, Platten, Holzbögen. Wie Markisen und Gesimse erweitert sich die Architektur vom Bild in den Raum.

Seit der Antike beschwören Säulen und Torbögen in puristischem Weiß geschichtsträchtige Architektur – gemeinhin assoziiert mit Institutionen religiöser und staatlicher Macht. Stubenvoll fragmentiert diese, verbindet sie nur notdürftig mit Farbe und stellt so das vermeintlich stabile Fundament der Institutionen infrage.

Angesichts zunehmender Polarisierung und ideologischer Verhärtungen, auch in lange als sicher geltenden Demokratien, drängt sich die Frage auf, welchen Belastungen demokratische Institutionen und deren sozialen Versprechen heute noch standhalten. Solidarität und Friedenswille – eigentliche Leitmotive westlicher Gesellschaftsordnungen – erscheinen zunehmend als Sollbruchstelle: rechtlich verankert, doch im Alltag brüchig, besonders dort, wo demokratische Strukturen Kräfte stärken, die sie selbst gefährden. Jenssen, Goehringer und Stubenvoll gemein ist das Bestreben, diese Verschiebungen und Brüche sichtbar zu machen und zugleich Empathie nicht als Ausnahme, sondern als Voraussetzung zu verhandeln.

WANN: Die Ausstellung “um fragile Affären” von Tamara Goehringer, Thilo Jenssen und Daniel Stubenvoll läuft bis Freitag, den 25. April.
WO: WAF, Schadekgasse 8, 1060 Wien.

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