Schonungslosigkeit in Aspik
Boris Mikhailov bei C/O Berlin

17. April 2019 • Text von

Fotografie als Drahtseilakt zwischen menschlicher Unschärfe und polit-historischer Schärfe. Die Überblicksausstellung vermittelt den Künstler als humorvoll und scharfsinnig, seine Werke als Fleischhappen in Aspik.

Boris Mikhailov, Ohne Titel, a.d.S. Case History, 1997/98 © Boris Mikhailov . VG Bild-Kunst, Bonn 2019.

Zwei Wege in die Ausstellung, zwei unterschiedliche Zugänge zu Werk und Person des ukrainischen Künstlers Boris Mikhailov. Rechts herum, der Ausstellungsarchitektur und den wegweisenden Wandtexten folgend, gelangt man in einen rechteckigen Raum; zu sehen ist die „Case History“-Serie, die der Künstler 1997/98 in seiner Heimatstadt Charkov aufgenommen hat. Unweigerlich schweift der Blick über die Wände, über die unzähligen, kleinformatigen Fotografien. Es ist ein wenig wie Memory rückwärts zu spielen oder auch als säße man in einem Panopticon. Man versucht einzelne Paare zusammenzufinden, um so ein komplexes Ganzes, eine Geschichte zu erfassen und zu verstehen – wie es der Titel der Arbeit suggerieren mag. Nähert man sich, treten aus der Menge einzelne Personen hervor: Vom Leben gezeichnete Gesichter und Körper, alleine oder in Gesellschaft Anderer. Den Hintergrund bildet immer die gleiche Szenerie kalt-schmutziger Winterlandschaften oder trister Interieurs. Mikhailov fasst seine Modelle direkt und teils, im wörtlichen und übertragenden Sinne nackt ins Auge. Das wird erst mal verstörend.

Der einführende Wandtext stellt den Fotografen als „wichtigsten Protagonisten einer schonungslosen, brutal-ehrlichen und manchmal fast voyeuristischen Fotografie“ vor und spielt damit unserem durch die lange Tradition von ethnografischer und dokumentarischer Fotografie geschulten Blick zu. Die Porträts dieser an der sozialen Peripherie existierenden Menschen werden zu Fallstudien einer verarmten und gebrochenen, postsowjetischen Gesellschaft. Der Betrachter tut sich schwer, sich nicht in seiner gesellschaftlichen und zeitlichen Differenz wahrzunehmen. Das Wissen um die eigene Bessergestelltheit schürt Mitleid im eigenen Blick und untersagt es den gezeigten Menschen, ihre eigene Geschichte zu erzählen; sie werden zu Stellvertretern und Sinnbildern eines bereits für sie erzählten Kanons der Geschichte. Als Fallstudien (sog. case studies) dienen sie der empirischen, also auf Erfahrungswissen basierenden Forschung, die ihren Forschungsgegenstand in seinem realen Umfeld untersuchen soll. Boris Mikhailov jedoch ist kein solcher Feldforscher.

Boris Mikhailov, Ohne Titel, a.d.S. Case History, 1997/98 © Boris Mikhailov . VG Bild-Kunst, Bonn 2019.

Versuchen wir es also andersherum. Wir betreten die Ausstellung von links und gelangen in einen kleineren Raum mit großformatigen Schwarzweißfotografien der Serie „I am not I“. Es ist der Künstler selbst, der hier antike Skulpturen- und Heldenposen parodiert und sich dazu mit so passend unpassenden Attributen wie einem Dildo oder mit lockiger Perücke, mit Säbel oder Einlaufgerät in Szene schmeißt. Nacktheit und Humor werden ihm hier zur Waffe gegen die totale Unterdrückung und Ausklammerung jeder Form individueller Freiheit unter dem sowjetischen Regime. Mikhailov hatte die Serie 1992, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in seinem Studio aufgenommen, wobei der clownesken Ironie der Posen immer auch etwas Trauriges anhaftet: Der eigene Handlungsspielraum ist limitiert; sowie der Rahmen die Fotografie begrenzt, begrenzt die amateurhaft anmutende, vom Künstler bewusst dargestellte Fotostudioatmosphäre den Bereich des Machbaren seitens des Künstlers.  

Boris Mikhailov, Ohne Titel, a.d.S. I am not I, 1992 © Boris Mikhailov . VG Bild-Kunst, Bonn 2019.

Es ist diese Form der bewussten Inszenierung, des geschickt Verpackens zutiefst menschlicher und damit hochpolitischer Inhalte, die in der Zusammenschau der verschiedenen Serien, Boris Mikhailovs geniales Schaffen verständlich macht. Seine ambiguosen Porträts sowie das Spiel aus Haltung und Pose, Gestik und Theatralik bringen unseren geschulten Weltblick ins Wanken. Überwinden wir den Blick, den uns unser Wissen und unsere Herkunft aufbürden, sehen wir in der„Case History“ Serie keine in sozialen Fallstudien, sondern Menschen, die auf der Bühne der Fotografie zu Protagonisten ihrer Selbst, ihrer individuellen Schicksale werden und damit dem Gefängnis ihres Alltags für einen Moment entkommen.

Dieses Spannungsfeld zwischen Personalisierung und Politisierung entfaltet sich dann auch in der Serie „Suzi et cetera“. Die Aufnahmen aus den späten 60er und 70er Jahren sind unter Glas auf Tischen präsentiert. Unter Einbezug der sowjetischen Macht- und Statussymbole durchbricht Mikhailov den damals streng regulierten, öffentlichen Raum. Wieder sind es nackte Haut und ausgelassene Posen, welche die erdrückende Totalität des sowjetischen Regimes für einen Moment konterkarieren und außer Gefecht setzen. Nacktheit und Humor als Formen des Widerstands mögen simpel erscheinen und sind dabei doch wirkungsvoll. Mit Hinblick auf die akrobatischen Posen der „I am not I“ Serie werden sie zu Aufwärmübungen für den künstlerischen Spagat, den Boris Mikhailov vollzieht.

WANN: Die Ausstellung ist noch bis zum 1. Juni 2019 zu sehen.
WO: C/O Berlin, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin.

 

 

 

 

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