Futter für die Seele
Von bildenden Kunstschaffenden gestaltete Kinderbücher

29. März 2022 • Text von

Angesichts sich zuspitzender weltpolitischer Verwerfungen scheint der Rückzug in Bücher eine besonders nachhaltige Form des Eskapismus zu sein. Wer dieser Tage nach Futter für die Seele sucht, sollte nach dem Ausstellungsbesuch einen Abstecher in den Museumsshop machen und auch mal bei den Kinderbüchern stöbern. Denn mit etwas Glück finden sich seltene Perlen von bildenden KünstlerInnen gestalteter Bücher. In ihnen lässt sich in der Bildwelt der jeweiligen Kunstschaffenden blättern und eingebettet in sorgsam komponierte Erzählungen in Kunstwerke eintauchen. Eindringlich erlebte Vorstellungswelten tun sich auf und bereiten nicht nur jungen Lesenden Freude.

Omas Haare sind krank, Astrid Hamm, Katie Armstrong, 2022.

Oma lächelt, ihre Wangen sind rosig, ihr kräftiges Haar rahmt das Gesicht. Im üppig bewachsenen Garten reden, lachen und spaßen Oma und Enkelin miteinander. Ihre heile Welt wird von einem Hain aus dornenbewehrten Rosenranken geschützt. Eines Tages aber bricht das Außen ins wohlig warme Zuhause in Omas Garten, da nützen alle Dornen dieser Welt nichts mehr. Denn eines Tages sind Omas Haare krank, wenn sie Haar für Haar in der Bürste verbleiben bis keins mehr auf dem Kopf übrig ist. Das Gesicht der Großmutter verändert sich, aber ihr Lächeln bleibt gleich. Es liegt im Rascheln der Blätter, im Duft der Rosen und in Gummibärchen, auch wenn Oma längst nicht mehr auf dieser Erde weilt.

Omas Haare sind krank, Astrid Hamm, Katie Armstrong, 2022.

“Omas Haare sind krank” ist eine warmherzige Liebeserklärung der Enkelin an ihre Großmutter. Das von der New Yorker Künstlerin Katie Armstrong illustrierte Buch erzählt vom Abschiednehmen eines geliebten Menschen. Vollzieht sich doch mit dem Verlust der Großeltern zumeist der erste Einbruch einer unbarmherzigen Realität in ein wohl behütetes Kinderleben, folgt die erste Beschäftigung mit dem Unvermeidlichen und dem unnachgiebig am Herzen zehrenden Gefühl von Trauer. Das Buch spendet nicht nur Kindern Trost, sondern ruft auch bei Erwachsenen die fern vertrauten Erinnerungen an die eigenen Großeltern wach. “Omas Haare sind krank” beschreibt in transluzid pastellfarbenen Bildern und einfühlsamen Worten die schlafraubende Angst vor dem Tod, aber auch die Hoffnung auf durch Erinnerungen bewahrte Lebendigkeit.

WAS: “Omas Haare sind krank”, Text und Idee: Astrid Hamm, Illustrationen: Katie Armstrong, Gestaltung: Katharina Fiedler, Maria Magdalena Meyer, Deutsch, 2022, 36 Seiten, 36 Abbildungen, Hardcover, 16,5 x 24 cm, MMKoehn Verlag, ISBN: 978-3-944903-70-5. Altersempfehlung: Ab 8 Jahren.

Schau nach oben Aya und du kannst die Sterne greifen, Hrsg. Silke & Jeppe Hein, illustriert von Silke & Jeppe Hein, Text(e) von Elisabeth Kiertzner, 2021, © Silke & Jeppe Hein.

In tiefer Nacht wendet ein in die Jahre gekommener Käfer am Waldboden den Blick gen mondbekrönten Himmel. Schlaflos meint er, in der Gestalt der Wolken Käfer aller Arten ausmachen zu können, wünscht er sich selbst frei wie die Wolken zu sein, bis ihm ein tautropfenförmiges Larvenei an einer der Blattunterseiten auffällt. Das Ei gleicht einem kleinen, weißen Punkt, der durch die Bewegungen der darin träumenden Schmetterlingsraupe Aya zu tanzen beginnt und schließlich unter innerlichem Aufbäumen zerplatzt. Der Käfer wird zum Beschützer der kleinen rosa Raupe, während diese stetig heranwächst, in ihrem unstillbaren Hunger Löcher in Blätter und tatsächlich in die Buchseiten frisst. Immer wieder träumt Aya von einem leuchtend blauen Schmetterling bis sie eines Tages aus dem Kokon der Zweifel schlüpft, die Flügel weit aufspannt und selber fliegen kann. 

Schau nach oben Aya und du kannst die Sterne greifen Gestaltung von All the Way to Paris, Hrsg. Silke & Jeppe Hein, illustriert von Silke & Jeppe Hein, Text(e) von Elisabeth Kiertzner, 2021, © Silke & Jeppe Hein.

Das Künstlerpaar Silke und Jeppe Hein schafft eine durch kräftige Farbigkeit dichte Atmosphäre, die von Elisabeth Kiertzners poetischen Texten begleitet wird. Bunte Aquarelle und Collagen lassen in fließende Farbströme eintauchen, verleihen der Düsternis des Waldbodens eine ganz besondere Magie. “Schau nach oben Aya und du kannst die Sterne greifen” erzählt von Freundschaft über alle Grenzen hinweg, vom Erwachsen werden in einer scheinbar viel zu großen Welt, vom Zweifeln und Träumen. Der Käfer zeigt Aya das leuchtende Blau im Dunkel und die Sterne, die manchmal erst sichtbar werden, wenn sich die Augen an die Finsternis gewöhnt haben. Die abenteuerliche Reise der kleinen Raupe veranschaulicht, dass die Welt auf einmal gar nicht mehr so groß und einsam ist wie es auf den Blick scheint. 

WAS: “Schau nach oben Aya und du kannst die Sterne greifen”, Gestaltung von All the Way to Paris, Hrsg. Silke und Jeppe Hein, illustriert von Silke und Jeppe Hein, Text(e) von Elisabeth Kiertzner, Deutsch, 2021. 88 Seiten, 88 Abb., Hardcover, 19,2 x 25 cm, Hatje Cantz Verlag, ISBN: 978-3-7757-5099-8. Altersempfehlung: Ab 4 Jahren.

The Ugly Duckling: A Fairy Tale of Transformation and Beauty, Hans Christian Andersen, illustrated by Marina Abramovic, 2018.

Ein Ei gleicht nicht dem anderem. Es will nicht aufbrechen, das Entlein nicht schlüpfen. Groß und schwarz liegt es unter der brütenden Mutter. Als sich das Neugeborene nunmehr endlich aus der harten Schale pellt, ist das Entlein groß und grau, so ganz verschieden zu den gewöhnlichen Enten. Von ihnen verspottet, beschließt das hässliche Entlein davonzulaufen, durchlebt eine Vielzahl an aufregenden Begegnungen bis es eines Tages im Wasser sein Spiegelbild kaum wiedererkennt: ein stolzer Schwan.

The Little Mermaid: A Fairy Tale of Infinity and Love Forever, Hans Christian Andersen, illustrated by Yayoi Kusama, 2016.

Hans Christian Andersens “Das hässliche Entlein” ist weltbekannt und nur eines der zahlreichen Märchen des dänischen Dichters. Veröffentlicht vom Louisiana Museum of Modern Art werden Andersens Worte von in dunklen Linien umrissenen Zeichnungen der Künstlerin Marina Abramović illustriert. In der Jugend selbst als hässlich, fett und ungewollt empfunden, schreibt Abramović im Epilog von ihrer starken Identifikation mit Andersens Märchen. Erst die Performance als Ausdrucksmedium hätte der Künstlerin den Weg zu Schönheit und Wahrheit gewiesen. Ähnlich dem Entlein sollte Abramović ihre Stärke und Identität entdecken, noch bevor es die Öffentlichkeit tat. Der Tritt vor das Publikum in einer Performance gleiche dem Blick ins spiegelnde Wasser, zeige das strahlende Sein, das alles möglich werden lässt.

Darüber hinaus wurde ein weiteres Andersen-Märchen mit künstlerischer Bebilderung vom Louisiana Museum of Modern Art herausgegeben. Die japanische Künstlerin Yayoi Kusama versah “Die kleine Meerjungfrau” mit ihrem Markenzeichen, dem charakteristischen Punktmuster.

WAS: “The Ugly Duckling: A Fairy Tale of Transformation and Beauty”, Hans Christian Andersen, illustriert von Marina Abramović, Hrsg.‎ Louisiana Museum of Modern Art, Illustrated Edition, Englisch, 2017, 40 Seiten, 23,88 x 1,02 x 31,75 cm, ISBN: 978-8-7928-7793-2. Altersempfehlung: Ab 6 Jahren.

Tar Beach, Faith Ringgold, 1996.

Der sternenbesetze, tiefblaue Nachthimmel zieht sich bis weit nach unten über das städtische Panorama. Hoch oben über der George-Washington-Brücke schwebt mit weit ausgebreiteten Armen ein schwarzes Mädchen namens Cassie Louise Lightfoot. Vom Himmel aus blickt es auf das Kleinod “Tar Beach”, die Dachterrasse des von ihrer Familie bewohnten Apartmentgebäudes in New York. Mittels auf dem Dach erträumter grenzenloser Freiheit macht sich Cassie nicht nur die Brücke, sondern gleich die ganze Stadt zu eigen. Bunt gemusterte Zukunftsvisionen erzählen von einem besseren Leben fernab des alltäglich erfahrenen Rassismus. Denn wer es wagt, sich von den Fesseln des Althergebrachten zu lösen, dem gehört die ganze Welt.

Tar Beach, Faith Ringgold, 1996.

Das englischsprachige Buch “Tar Beach” der afroamerikanischen Künstlerin Faith Ringgold basiert auf dem gleichnamigen 1988 entstandenen Quilt, welcher Teil der heute im New Yorker Guggenheim Museum befindlichen Serie “Women on a Bridge” ist. Der Quilt wird dabei als ein traditionell von Frauen geschaffenes Gemeinschaftsprodukt zum Träger von Themen der Bürgerrechtsbewegung und bezieht in Bild wie Schrift klar Stellung. Die Serie setzt sich aus naiv folkloristischen Darstellungen zusammen, die in vielerlei Hinsicht auch heute noch aktuell sind und einen kritischen Blick auf den amerikanischen Traum werfen. Ringgold gibt darin unterdrückten Perspektiven Raum, lässt schwarze Heldinnen zu Projektionsflächen neuer Träume von sozialer Veränderung werden.

WAS: “Tar Beach”, Faith Ringgold, Englisch, 1996, Paperback, 32 Pages, 9-1/4 x 12 inches, Dragonfly Books, ISBN: 978-0-5178-8544-4. Altersempfehlung: Ab 5 Jahren.

Isabelle Cornaro – color me (Série n°9), 2021; Laure Prouvost – color me (Série n°9), 2021.

Zuletzt gibt es natürlich nicht nur Kombinate aus Bild und Text, sondern auch Malbücher wie die “Color me”-Reihe von Semiose Editions. Die eigene Vorstellungskraft und Kreativität wird in den Grenzen des von bekannten KünstlerInnen vorgegebenen Liniengerüsts und darüber hinaus gefordert. So vielfältig wie die Auswahl der Kunstschaffenden ist, so vielfältig ist auch deren Herangehensweise. Es finden sich beispielsweise Masken von Camila Oliveira Fairclough, in breite Streifen eigebettete Comics von Claudia Comte, als Puzzle zusammengesetzte Versatzstücke von Richard Jackson, abstrakte Formspiele von Josh Sperling oder auf Sockel gehobenes Malen nach Zahlen von Jochen Gerner. Ausgehend von humorvoll zusammengestellten Linien, Mustern und Comics kann eine ganz eigene Geschichte erzählt werden, was in Zeiten von immer gefragteren Malbüchern für Erwachsene nicht nur Kindern Spaß bringt.

WAS: “Color me. an artist + a child = color me = les Belles Lettres”, Bilingual EN/FR, 24 Pages, 6 x 8 inches, Softcover, Semiose Editions.