Sedimente der Zukunft Die Biennale Gherdëina "The Parliament of Marmots"
7. Juni 2024 • Text von Quirin Brunnmeier
Zwischen geologischer Vergangenheit und einer ökologischen Zukunft. Unter dem Titel “Das Parlament der Murmeltiere” zeigt die 9. Ausgabe der Biennale Gherdëina eine Auswahl internationaler künstlerischer Vorschläge. Die Arbeiten befinden sich im Spannungsfeld zwischen Natur und Mensch, Ursprünglichkeit und Domestizierung.
Unwirklich scheint dieses gigantische Skelett inmitten der beeindruckenden, noch schneebedeckten Gipfel der Dolomiten. Auf einem einsamen Hochplateau hat die schwedische Künstlerin Ingela Ihrman ihre großformatige Installation “First Came the Ocean” platziert, die der Struktur eines Meerestieres nachempfunden ist, das vor mehr als 250 Millionen Jahren am Ort der jetzigen Dolomiten lebte. Zusammengesetzt ist diese Skulptur aus gefundenen Stämmen und Ästen lokaler Bäume, die von der Borkenkäferplage geschwächt und durch Stürme umgestürzt waren. Ihrman verbindet in ihrer Arbeit aktuelle ökologische Themen mit der geologischen Geschichte dieses Gebirges, dessen Felsen aus den Sedimenten von Korallenriffen bestehen und dessen Wiesen einmal der Meeresgrund waren.
Diese skulpturale Intervention ins Raum-Zeit-Gefüge ist Teil der 9. Ausgabe der Biennale Gherdëina in Südtirol. Unter dem Titel “Das Parlament der Murmeltiere” vereint sie bis zum 1. September an unterschiedlichen Orten im Grödnertal die Arbeiten von Künstler*innen verschiedener Nationalitäten. Kuratiert von Lorenzo Giusti, der von Marta Papini als assoziierter Kuratorin unterstützt wird, will die facettenreiche Ausstellung ein hybrides Mosaik künstlerischer Vorschläge präsentieren und komplexe Ebenen miteinander vernetzen. Dabei soll die existenzielle Dimension des “Wilden” in einer technisierten und zivilisierten Welt ausgelotet werden, neue Ursprünge und Perspektiven eröffnet werden und die natürlichen wie narrativen Räume der Alpen und der Gebirge im Mittelmeerraum miteinander verbunden werden.
Der Titel der Biennale bezieht sich auf den ladinischen Mythos des Königreichs der Fanes, eines sanftmütigen Volkes, dessen Reich sich bis an den sprichwörtlichen Rand der Welt erstreckte. Das Geheimnis des Wohlstands dieses Volkes lag in der Allianz mit den Murmeltieren. Zentral für diesen Mythos sind Themen der Verwandlung und der Metamorphose, die wilde Natur, die zyklische Balance aus Leben und Tod und die Beziehungen zwischen den verschiedenen Arten. Die gesamte Biennale umfasst Kommissionen, Performances, Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Kooperationen mit regionalen Kulturinstitutionen. Die Kunst ist an verschiedenen Orten im Val Gherdëina zu finden. Bereits an der Einfahrt zum Tal wird man von einer Skulptur des französisch-tunesischen Künstlers Alex Ayed begrüßt. “Untitled (Beit el hmam II)” ist ein traditioneller Taubenschlag aus Olivenholz, Stroh und Lehm. Im neuen Kontext und als Skulptur präsentiert, verweist dieses Objekt auf die komplizierte, vielschichtige und zutiefst hierarchische Beziehung zwischen Mensch und nicht menschlichen Lebewesen.
Auch am Grödner Schloss in Wolkenstein, im Museum Gherdëina oder im Zentrum von St. Ulrich sind Skulpturen und Installationen zu sehen. In der dortigen Sala Trenker wird eine Retrospektive der 2023 verstorbenen Bildhauerin und Tierrechtsaktivistin Lin May Saeed gezeigt. Ihre zarten Skulpturen und Reliefs aus Polystyrol widmen sich dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Ihre durchaus erzählerischen Arbeiten beziehen sich auf Fabeln und Mythen des Antiken Mesopotamiens sowie der christlichen und islamischen Tradition. Ihre kulturübergreifenden Narrative berichten von Strukturen der Ausbeutung aber auch von möglichen Utopien einer friedlichen Koexistenz in einer gemeinsamen Zukunft. Die Ausstellung ist in Kooperation mit der GAMeC in Bergamo entstanden, dessen Direktor Lorenzo Giusti ist.
Etwas weiter unten im Tal, in Pontives findet man im Spazio Stufflesser eine konzentrierte Gruppenausstellung, die wie der Kern der gesamten Biennale wirkt. Die gezeigten Arbeiten, Videos, Skulpturen und Bilder, verdichten sich zu einem engen Netz, in dem die Gebirge der Alpen mit den Bergen des Nahen Osten verwoben werden, Zeitebenen durchbrochen und Mythen miteinander verknüpft werden. Aus der Perspektive der geologischen Zeit, in der die Dolomiten als „junges Gebirge“ gelten, betrachtet, verändern sich die Relationen auf grundlegende Art und unsere Narrative werden zu hauchdünnen Schichten im Sediment.
Im Laufe des Sommers bietet die Biennale Gherdëina 9 ein öffentliches Programm mit Workshops, Performances, Vorträgen und Waldspaziergängen zur Erkundung der Geschichte der Dolomiten und des Reichtums ihrer Fauna und Flora.
WANN: Die 9. Biennale Gherdëina “The Parliament of Marmots” findet noch bis zum 1. September statt.
WO: Val Gherdëina, 39046 Ortisei, BZ, Italien
In freundlicher Zusammenarbeit mit der Biennale Gherdëina.