Berliner Kunstgriff
08.06. – 14.06.16

7. Juni 2016 • Text von

Das HAU macht Lateinamerikas größtes Land in Tanz, Kunst und Kultur greifbar und dabei gleichzeitig auf dessen gegenwärtige Schwierigkeiten aufmerksam. Der Hamburger Bahnhof zeigt eine Retrospektive der türkischen Künstlerin Gülsün Karmustafa und bei The Ballery spürt Francesco Cascavilla Intimität mit der Kamera nach – das nennt man wohl die Qual der Wahl.

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Lia Rodrigues: Para que o céu não caia/ For the Sky Not to Fall, 2016. Foto: Sammi Landweer.

„Es gibt viele Gründe sich mit dem größten Land Lateinamerikas auseinanderzusetzten.“ – erkennt das HAU Hebbel am Ufer ganz richtig. Das Amtsenthebungsverfahren der Präsidentin Dilma Rouseff, die ökonomische Expansion, welche in profitorientierter Blindheit die ökologischen Bestände und indigenen Lebensweisen den Landes übersehen hat und die wachsende soziale Ungleichheit – vor allem gegenüber allen denjenigen, die anders leben, lieben und aussehen. Während in Brasilien das Kulturministerium zwischenzeitlich abgeschafft wurde, veranstaltet das HAU aus all diesen und noch viel mehr Gründen zwischen dem 07. und 19. Juni das Festival „Projecto Brasil/ The Sky is already falling.“ Mehr als zwei Wochen lang teilen zahlreiche Künstler und Künstlerinnen ihre Sicht auf den brasilianischen Status quo. Im Tanz wird die Kraft von spirituellen Riten und dem Körper als Medium für transzendente Erfahrungen  verhandelt und auch das jüngste brasilianische Tanzphänomen, der Passinho, vorgestellt. Künstlerisch wird sich vor allem dem Verschwinden indigener Kulturen und architektonisch den Konflikten zwischen Ökologie und Politik im Amazonasgebiet gewidmet. Während dem Festival sind Hängematten am Landwehrkanal aufgehängt und am 14. Juni findet ein offenes Plenum für alle Diskutierfreudigen statt.

WANN: Das Festival eröffnet mit einem neuen Tanzstück von Lia Rodrigues am 07.  Juni um 20 Uhr und läuft dann bis zum 19. Juni. Alle Veranstaltungen und Tickets dafür findet ihr hier.
WO: In allen drei Häusern HAU – Hebbel am Ufer, Stresemannstr. 29,10963 Berlin. Als informeller Treffpunkt für diesen Dialog fungiert während des Festivals die Hängematten-Installation vor dem HAU2.

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Gülsün Karamustafa: Against the Serpent, 1986. Courtesy: Izmir Institute of Technology Library Collection.

Und es bleibt politisch. Denn die Eröffnung einer umfassenden musealen Einzelausstellung einer türkischen Künstlerin im Hamburger Bahnhof kann sich angesichts des politischen Tagesgeschehens nicht in den kunstgeschichtlichen Elfenbeinturm zurückziehen. Nur die Spree trennt Berlins Museum für Gegenwart von dem Regierungsviertel. Aber die Präsentation des Oeuvres von Gülsün Karmustafa, Jahrgang 1946, ist mehr als beliebige Bejahung der gesellschaftlichen Relevanz zeitgenössischer Kunst. Auf multimedialer Ebene – Malerei, Installation, Performance und Video – widmet sie sich seit Mitte der 1970er Jahre Fragestellungen um Migration, Popkultur, Feminismus und Gender und gilt als eine der wichtigsten und einflussreichsten Künstlerinnen in der Türkei. Die Größe der Ausstellung „Chronografia“ macht ihre Werke erstmals einem breiten Publikum außerhalb der Türkei zugänglich. Die formale Schönheit ihrer Gemälde, Fotografien und allem Dreidimensionalen ist entwaffnend, berührt zuerst das Herz und dann den Verstand, wenn Bezüge zu aktuellen Diskursen unterhalb der Oberfläche sichtbar werden.

WANN: Die Eröffnung findet am Donnerstag, den 09. Juni, um 19 Uhr, statt und die Ausstellung ist bis zum 23. Oktober zu sehen.
WO: Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 50/ 51, 10557 Berlin. Und online.

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Francesco Cascavilla: Schermata (Series), 2016, Fotografie. Courtesy of the artist.

Pünktlich zum Wochenende verschiebt sich der Fokus von der Weite der Welt und den Abgründen gesellschaftlicher Konventionen, auf die Höhen und Tiefen des Privatlebens. Bei The Ballery eröffnet am Freitagabend eine Ausstellung über die Beziehung zwischen zwei Menschen. Der Fotograf Francesco Cascavilla nähert sich mit seiner Kamera den bewussten und unbewussten Gefühlen zwischen Liebenden bis auf wenige Zentimeter. Die Ausstellung „Between you and me“ zeigt mit der schonungslos mimetischen Qualität des Mediums Fotografie zwischenmenschliche Intimitäten: Nackte Haut, einzelne Lichtstrahlen und ganz viel Dunkel. Ist eine Erfahrung noch intim, wenn die Kamera „Klick“ macht? Die Schönheit der Verletzlichkeit jeder Form von Entblößung wird durch die fotografische Abbildung noch gesteigert.

WANN: Am Freitag, den 10. Juni, zwischen 18 und 21 Uhr. Hier könnt ihr auf „Teilnehmen“ klicken.
WO: The Ballery, Nollendorfstraße 11, 10777 Berlin.

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