Einmal Weltschmerz zum Mitnehmen
Belkis Ayón im Aachener Ludwig Forum

2. November 2022 • Text von

Gesichtslose Figuren, fluide Körper lösen sich schwarz und weiß aus sakraler Dunkelheit, sind beleuchtet wie Ikonen im Aachener Ludwig Forum. “Ya Estamos Aquí” (Wir Sind Schon Hier) ist die erste Retrospektive der kubanischen Künstlerin Belkis Ayón (1967–1999) im deutschsprachigen Raum. Aufmerksame Besuchende werden ihre Werke vielleicht auch in der Hauptausstellung der diesjährigen Biennale in Venedig erspäht haben. Eine Frau im Zentrum eines Männerbunds? Eine Schwarze Christusfigur? Bunt trotz monochromer Farbigkeit? Ayóns Kunst enthält all das. Und noch mehr.

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Belkis Ayón, Ya Estamos Aquí, Ausstellungsansicht, 2022, Ludwig Forum Aachen, Foto: Mareike Tocha.

Gesichtslos heben sich Figuren hell und dunkel aus einem grauen Ozean, sind weiße und schwarze Wellen, die es nach tiefem Fall nur für einen kurzen Moment am Gipfel hält. Mit großen verletzlichen Augen, verwundeten Seelen sehnen sie sich zu gesunden von den Schmerzen dieser Welt. Doch zu weit schon sind die Augen aufgerissen, dass es sich noch abzuwenden lohnt, zu lange haben die Ohren zugehört, ins Innerste der Welt gelauscht, sind die Hände tastend, suchend über deren Narben geglitten bis das Atmen immer schwerer fällt. Vielleicht versucht jemand zu schreien, zu rufen, in Worte zu fassen, was sich offenbarte, doch wo sonst der Mund sitzt, fehlt etwas. Das Innerste ist geschunden, die Sinne wund, die Augen nässen, heilen wollen sie nicht mehr. Erst wenn die zittrigen Sehorgane in innerer Erleuchtung erblinden, sind die Figuren verlustig ihrer Sinne, aber endlich frei von Schmerz.

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Belkis Ayón, Ya Estamos Aquí, Ausstellungsansicht, 2022, Ludwig Forum Aachen, Foto: Mareike Tocha.

Inmitten von Belkis Ayóns Kunst fühlt man sich wie eingeschlossen in einem Kirchenraum, umgeben von durchscheinenden Mosaikfenstern. Allzu auffällig sind die Bezüge zum christlichen Glauben, wenn gleich mehrere Versionen des letzten Abendmahls im ersten Raum der Ausstellung im Aachener Ludwig Forum zu finden sind. “La Cena” (Das Abendmahl) ist tatsächlich auch der Titel des großformatigen Gruppenporträts, doch sind es ursprünglich männlich besetzte Rollen, die nun von weiblichen Figuren übernommen worden sind. An diesem Werk lässt sich festmachen, was für Ayóns gesamtes Schaffen gilt, wenn jede Arbeit mehrdeutig erscheint, so divers interpretierbar wie die Schattierungen einer in Grautöne fragmentierten Welt. Denn auch wenn die Anleihen am christlichen Glaubenssystem augenscheinlich sind, beschäftigen die kubanische Künstlerin vor allem die Mythen und Symbole rund um einen allein Männern vorbehaltenen afro-kubanischen Geheimbund. So stellt “La Cena” nicht nur das letzte Abendmahl dar, sondern auch das Initiationsmahl der Abakuá.

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Belkis Ayón, Ya Estamos Aquí, Ausstellungsansicht, 2022, Ludwig Forum Aachen, Foto: Mareike Tocha.

Nicht nur inhaltlich ist “La Cena” kennzeichnend für Ayóns Arbeitsweise, sondern auch in formaler Hinsicht. Denn hier überschritt die Künstlerin erstmals die damals in Kuba übliche Druckgröße, indem sie mehrere Bögen zu einem von lebensgroßen Figuren bewohnten Tafelbild kombiniert. Es ist der Anfang eines zunehmenden Ausbruchs aus der Zweidimensionalität, der später in den fast bühnenbildartigen Konstruktionen, die Betrachtenden im doppelten Sinne ins Bild setzenden Szenerien kulminiert. Collagrafie nennt sich die spezielle Drucktechnik, die sich dem Schichten von collagierten und strukturierten Materialien auf Kartonmatrizen bedient.

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Veneración, 1986, Courtesy Belkis Ayón Estate.

Wiederkehrend betreten bestimmte im afro-kubanischen Abakuá-Narrativ beheimatete Charaktere die Bühne des komplexen Bilderkosmos. Da ist zum Beispiel der Wahrsager Nasakó, der Prinz Mokongo, der kriegerische Leopardenmann oder der Fisch Tanze als Inbegriff sakraler Macht. Allein Prinzessin Sikán ist weiblich und bildet zugleich das Zentrum des sonst männerdominierten Mythos. Laut diesem wurde sie als Begründerin der Sekte von den Männern geopfert, um an die sakrale Stimme eines Fisches zu gelangen. In vielfältiger Variation ist die mit aufmerksamen Augen das Geheimnis der Männer – die Stimme des Fisches – entdeckende Prinzessin zugleich das Alter Ego der Künstlerin. Innerhalb der 1995 im Innenraum der Kirche St. Barbara in Breinig realisierten, erneut doppelt lesbaren Installation “Via Crucis/Kreuzweg” tritt Sikán sogar an die Stelle der Christusfigur.

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La sentencia „Apártame de todo pecado”, 1994, Courtesy Peter und Irene Ludwig Stiftung, Foto: Anne Gold. // Belkis Ayón, Ya Estamos Aquí, Ausstellungsansicht, 2022, Ludwig Forum Aachen, Foto: Mareike Tocha.

Im Fokus von Ayóns Schaffen steht also eine Frau, die innerhalb patriarchalischer Machtstrukturen geopfert wird. Ein Sinnbild nicht nur für den geheimen Männerbund der Abakuá, sondern für alle Gesellschaften wie Religionen betreffende Geschlechterungleichheit. Sikán vereint zudem den historischen Wandel von matriarchalischen zu patriarchalischen Gesellschaften in ihrer vielschichtigen Person, wenn sie gleichermaßen als Leitfigur wie Stammesmutter gilt und doch am Schluss von Männern als Opfer dargebracht wird. In einem von Ayóns frühesten Werken wird dieser Umstand zum direkten Bildgegenstand, wenn zwei Kanus aufeinandertreffen und ein Mann die von einer Frau erbeuteten Fische raubt. Unübersehbar ist der dezidiert feministische Impetus von Ayóns gesamtem Werkschaffen, aber auch auf gesellschaftliche Konflikte, Hierarchien und Strukturen in ihrem Heimatland weisen die Arbeiten hin. Denn der Aufbau des Geheimbundes als einer von wenigen Personen geleiteten Gemeinschaft funktioniert äquivalent zu Kubas seit 1959 bestehendem politischen System.

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Belkis Ayón, Ya Estamos Aquí, Ausstellungsansicht, 2022, Ludwig Forum Aachen, Foto: Mareike Tocha.

All das ein bildnerischer Kosmos, der sich bezogen auf die Abakuá-Symbolik als hochkomplex ausweist, mit dem Mythos nicht vertrauten Betrachtenden zunächst kryptisch erscheint. Man muss sich jedoch nicht zwangsläufig mit den Mythologien des Geheimbunds auseinandersetzen, muss nicht religiös sein für die Kunst von Ayón. Die Werke können auch anders, intuitiver gelesen werden, sind die darin enthaltenen Menschen, ihre Emotionen doch universell. In unzähligen Schattierungen von Grau, in wechselndem Schwarz und Weiß erzählen die gesichtslosen und in ihrer Musterung gleichsam individuellen Figuren von den unzähligen Schattierungen des ganz alltäglichen Seins. Von einem haltlosen Hinabsinken in all die dunklen Strudel dieser Welt, in ihren lichtlosen Abgrund. Von der ewigen Suche eines fein durchäderten Ichs nach Antworten, nach spiritueller Erleuchtung. Stets von der Angst getrieben, dass es ein tumbes, ein stummes und taubes Suchen sei. Ein Suchen mit zittrig großen Augen, die manchmal zu viel sehen und sich nach innen wenden müssen für tatsächliche Heilung.

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Belkis Ayón, Ya Estamos Aquí, Ausstellungsansicht, 2022, Ludwig Forum Aachen, Foto: Mareike Tocha.

Mäandert bewegt sich dieses suchende Sein durch all die Untiefen, ist mal vieläugig, mal einäugig, mal blind. Irgendwann tritt es vielleicht aus dem Dunkel der Welt mit leuchtenden Augen, leuchtenden Gedanken hervor – oder aber auch nicht. Man fühlt sich fast ein wenig fiebrig in der Ausstellung “Ya Estamos Aquí” (Wir Sind Schon Hier), geschüttelt von ehrfürchtigem wie ehrfurchtslosem Erschaudern, mal heiß und mal kalt. Auch noch, wenn die Bilder nachwirken, in der Erinnerung als Gegenbilder farbig sind. Denn selbst, wenn nur ganz wenige der frühen Arbeiten tatsächlich Farbe tragen, sind die monochrom schwarzen und weißen Figuren vielfarbig in ihrer Musterung, hat jede einen eigenen Charakter, eine fast haptische Oberflächenstruktur. All diese fluiden Körper winden sich im Angesicht einer Realität, die so scharfkantig ist, dass sie in das weiche Fleisch einsinkt. Es sind geschundene Körper, verletzte Seelen, welche die Wundmale dieser Welt betasten – so wie wir es zuweilen alle sind und mit durch die Schädeldecke wuchernden Gedanken die Ausstellung verlassen.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 26. Februar.
WO: Ludwig Forum für Internationale Kunst, Jülicher Straße 97–109, 52070 Aachen.