Hamburg, was geht?
Kunst in Hamburger Galerien, Kunstvereinen und auf Festivals

21. Juli 2022 • Text von

Die aktuellen Ausstellungen in Hamburg kennen sich mit Erfrischung aus. Bei Melike Bilir führt Oliver Ross in fließende kleine Welten, die sich wie bunte Sonnenschirmchen entfalten. Mit Nina Kuttler im Kunstverein Harburger Bahnhof wird eine wissenschaftshistorische Reise ans Meer gemacht und Hände in Spülwasser gehalten, Linus Rauch lässt bei Tom Reichstein Contemporary die Farben seiner Werke luftig leicht im Raum zirkulieren. Bei Evelyn Drewes bietet Sebastian Maas ein kurioses Picknick in der Stadt und Robert Vellekoop spricht eine großstädtische Skyline-Formensprache. Im Kunsthaus Hamburg wird die kämpferische, lufterfrischende Perspektive der Bäume eingenommen. Feiern lassen sich Kunst und Sommer bestens auf dem MS Artville Festival.

Hamburg, Evelyn Drewes, Sebastian Maas, Robert Vellekoop, Malerei, Collage, Skulptur, Lampe
Sebastian Maas: “Nägelschneiden”, 2022, 160 x 110 cm, Öl auf LKW-Plane. Courtesy of the artist // Robert Vellekoop: “o.T. (Lampe)”, 2017, 183 x 89 x 48 cm, Holz, Acryl, Glas. Courtesy of the artist.

Sebastian Maas und Robert Vellekoop bei Evelyn Drewes

“Urban Picnic”, das klingt ziemlich romantisch. Seltsam wird es nur, wenn sich jemand kurzerhand entschließt sich auf der Picknickdecke die Fußnägel zu schneiden. Sebastian Maas geht mit seiner Leinwand an diese seltsamen Orte. Zwei junge Frauen teilen sich eine Wassermelone, gesichtslos, anonym wie die Großstadt. Ein Reh springt durch die Wohnung, eine Fledermaus flattert in einer Voliere, Geschlechter spielen keine Rolle, jede*r kann Kleider, Bart oder rote Haare bis zur Hüfte tragen. Maas zeigt bei Evelyn Drewes eine kuriose, collagierte, vielschichtige und freie Welt. Zeitgleich sind im experimentierfreudigen “Lab” der Galerie Skulpturen und Malereien von Robert Vellekoop zu sehen. Die Formensprache des Künstlers scheint Geschichten der Großstadt zu erzählen. Abstrakte Laternen, Pflanzen und Hochhausumrisse prägen sein Werk. Gradlinig und doch verschachtelt, der reinste Großstadtdschungel.

WANN: Beide Ausstellungen laufen noch bis Donnerstag, den 18. August.
WO: Evelyn Drewes Galerie, Brandshofer Deich 52, 20539 Hamburg.

Nina Kuttler, If You Put the Question in Wrong, Will the Answer Come Out Right?, 2022, Ausstellungsansicht Kunstverein Harburger Bahnhof, Foto: Fred Dott.
Nina Kuttler, If You Put the Question in Wrong, Will the Answer Come Out Right?, 2022, Ausstellungsansicht Kunstverein Harburger Bahnhof, Foto: Fred Dott.

Nina Kuttler im Kunstverein Harburger Bahnhof

Nina Kuttler würdigt mit ihrer Solo-Show “If You Put the Question in Wrong, Will the Answer Come Out Right?” im KvHbf zwei weibliche Wissenschaftlerinnen, denen es zu Lebzeiten aufgrund ihres Geschlechts nicht möglich war zu studieren und die überwiegend belächelt wurden. Agnes Pockels und Mary Anning haben dennoch Grundlegendes zur Forschung beigetragen: Die Physikochemikerin Pockels entdeckte beim Abwaschen, wie unterschiedlich sich Spüli, Öl und Co. auf dem Wasser verhalten und trug mit ihren Erkenntnissen maßgeblich zur Erforschung der Oberflächenspannung bei. Die Paläontologin Anning fand auf der Suche nach Fossilien, die sie an Tourist*innen verkaufen wollte, die ersten komplett erhaltenen Skelette zweier Meeressaurier. Diese Ereignisse verarbeitet Kuttler filmisch. Plastik-Dinos reißen ihr Maul auf, Spülwasser spritzt, Geschirr klappert und in Stein eingeschlossene Muscheln werden der Kamera gezeigt. Kuttler holt mit ihrer Kunst nach, was die männlich dominierte Wissenschaft lange versäumt hat, macht Aufmerksam auf ein immer noch präsentes Problem und bietet eine wissenschaftshistorische Reise zwischen damals und heute an.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 14. August.
WO: Kunstverein Harburger Bahnhof, Im Fernbahnhof über Gleis 3 / 4, Hannoversche Straße 85, 21079 Hamburg.

Linus Rauch, Installation view, "Permanente", 2022, Photo: Edward Greiner.
Linus Rauch, Installation view Tom Reichstein Contemporary, “Permanente”, 2022, Photo: Edward Greiner.

Linus Rauch bei Tom Reichstein Contemporary

Zarte Farben, feine Raster, ein Hauch von allem. Linus Rauchs Werke der aktuellen Ausstellung “Permanente” bei Tom Reichstein Contemporary stehen in einem ständigen Verhältnis zueinander und sind Verweise auf den sie umgebenden Raum. So luftig leicht in ihrer Farbigkeit, scheinen sie sich von der Leinwand zu lösen und beinahe gasförmig im Raum zu verdampfen. Sie wirken unaufhaltsam und doch absolut präsent. Die Gitterstrukturen, die sich teilweise durch sie hindurchziehen, scheinen sie zusammenzuhalten, sie vernetzen sich, kommunizieren rhythmisch, wellenförmig, wie das Wasser und der Wind. Eine erfrischend feine Show, die nachhallt.

WANN: Die Ausstellung “Permanente” läuft noch bis Samstag, den 20. August.
WO: Tom Reichstein Contemporary, Stockmeyerstraße 41, Halle 4J, 20457 Hamburg.

Skulptur, Simone Kesting, Stahlstäbe, MS Artville
Simone Kesting: “Oshi”, 2022. Foto: Axel Fuellgraf.

MS Artville Festival

Kunst in all ihren Facetten zeigt das MS Artville Festival. Das Oberthema ist dieses Jahr “filter” und unter diesem wird getanzt, performt, gelesen, Kunst betrachtet und erfahren. Der persönliche Filter ist immer da, er bildet unsere Identität, lässt jede*n die Welt anders betrachten und wahrnehmen. Die Kunstwerke der 23 ausstellenden nationalen wie internationalen Künstler*innen, unter ihnen Lars Klingenberg, Jo-Hendrik Hamann, Pia Fleckenstein, Seongwon Park, Alexander Schubert, Katya Kóv und Simone Kesting, widmen sich dem Thema “filter” auf verschiedenste Art und Weise. Simone Kestings Skulptur “Oshi” setzt sich aus 15000 Stahlstäben zusammen und scheint wie ein wildes Wesen durch das Grün zu wandeln, Pia Fleckensteins zunächst geometrisch erscheinendes Mural fügt sich zu einer Frau zusammen, Alexander Schuberts Installation wird von KI bespielt und von Besucher*innen interaktiv begangen und Lars Klingenberg engagiert sich künstlerisch für Obdachlose. Zudem liest Ronja von Rönne aus “Ende in Sicht” und DJs aus der Kunstwelt geben die passenden Beats. Das neuntägige Programm bietet eine Menge Freude, die herausgefiltert werden will – und natürlich erfrischende Drinks.

WANN: Das MS Artville findet von Samstag, den 23. Juli bis Sonntag, den 7. August statt. Tickets für die Tage eurer Wahl gibt es hier.
WO: MS Artville-Gelände, Reiherstieg-Hauptdeich / Alte Schleuse 23, 21107 Hamburg-Wilhelmsburg.

Oliver Ross, Galerie Melike Bilir, Hirn will, Hamburg
Oliver Ross: “Mein Hirn gehört mir”, 2017, Foto: Oliver Ross.

Oliver Ross in der Galerie Melike Bilir

Der eindrucksvolle Titel “Einige Vital-Klappen mit kontinentalem Müslibesatz und vermittelnden Textilien in deko-rationaler Gestaltung als Ausdruck einer anti-kulturellen Ästhetik” von Oliver Ross aktueller Show bei Melike Bilir sagt eigentlich alles und lässt doch große Fragezeichen zurück. Diese fragende Lücke klappt sich mit den bunten collagenähnlichen Objekten buchstäblich auf und zu. Scharniere verbinden Teile miteinander, sie machen sie beweglich, lassen im Objekt Miniaturräume und sie insgesamt zu einem Mikrokosmos werden. Ein Kosmos ohne kulturelle Grenzen, einer in dem die Kunst frei vermittelt, Übergänge aufweicht und dabei einfach funky aussieht. Sein Layout betitelt der Künstler selbst als “Prinzip Pizza” und es funktioniert genau so, es ist mal scharf mal fruchtig, es schmilzt, es verschiebt sich und kann zusammengeklappt werden – und es verbindet Menschen. Wer mag denn keine Pizza?

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 31. Juli.
WO: Galerie Melike Bilir, Admiralitätstrasse 71, 20459 Hamburg.

Formafantasma: Seeing the Wood for the Trees, Kunsthaus Hamburg, Installationsansicht, 2022. Film, Recherche, Wald, Baum
Formafantasma: Seeing the Wood for the Trees, Kunsthaus Hamburg, Installationsansicht, 2022, Fotos: Hayo Heye.

Formafantasma im Kunsthaus Hamburg

Die Jahresringe eines Baumes sind wohl die einzigen Ringe, die wahrhaftig Geschichten schreiben. Sie speichern die Gegebenheiten des Jahres, tragen klimatische Informationen und passen sich in äußerstem Ring und Rinde immer wieder aufs Neue an. Dieser Tage, dieser Jahre haben sie mit letzterer Aufgabe ganz schön viel zu tun. Abkühlung ist Arbeit. Das italienische Designduo Formafantasma nimmt die Perspektive der Bäume ein, die in der Welt vielmehr als Ware und Rohstoff, denn als Klimaschützer und Organismus wertgeschätzt werden. Das Kunsthaus Hamburg zeigt in der Ausstellung “Seeing the Wood for the Trees” derzeit drei filmische Arbeiten des Duos, die Teil ihres umfangreichen Rechercheprojektes “Cambio” sind. Der Wald wird collagiert, aus der Vogelperspektive überflogen, von manipulierten Lidar-Scans durchleuchtet, verfeuert, von Wissenschaftler*innen besprochen, rabiat abgeforstet und an seinen friedlichen Ursprung zurückverfolgt.

WANN: Die Ausstellung “Seeing the Wood for the Trees” läuft noch bis Sonntag, den 31. Juli.
WO: Kunsthaus Hamburg, Klosterwall 15, 20095 Hamburg.

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