Aus scharfzüngigen Liebesbriefen
Pictured as a Poem in der KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION

20. Oktober 2021 • Text von

Ein sprachliches Band durchzieht die Gruppenausstellung „Pictured as a Poem“ im KAI 10. Worte fließen in leisen Tönen, schwellen zu mit eindringlicher Stimme vorgetragenen politischen Botschaften an. In unruhigen Zeiten wird die Poesie im Düsseldorfer Medienhafen zum Anker der Kunst.

Julien Creuzet: “Là-haut, / Nos aïeux / Dans nos yeux / words come from far away / from my ancestral memory / astral, sky, I’m not alone / on the way anymore (…)”, 2020, 9 Skulpturen aus Gips, Stoff, Metall, Perlen, verschiedene Materialien, alle Werke, Courtesy the artist and High Art, Paris / Arles, Installationsansicht, KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION, Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf.

An der Wand der KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION liegt ein seltsam anmutendes Bücherregal im Hafen, Ausgangspunkt der Arbeit „The Pirates‘ Who‘s Who“ des Künstlers Saâdane Afif. Ganz in Schwarz mit geschwungenem und unregelmäßig geformtem Boden, der wilden Wellenbewegungen nachempfunden ist. Es trägt eine wertvolle Fracht: Zahlreiche Bücher, die sich im pastellfarbenen Gewand aneinanderreihen. In langen Schlieren läuft schwarze Farbe aus dem Regal, verharren die glitzernden Farbnasen knapp über dem Boden als hätte das Schiff zahlreiche Anker geworfen, als würde es sich langsam auflösen im umgebenden Raum. Auf den Bohlen ruht jedoch nicht ein mannigfaltiges Potpourri an Literatur wie die bunte Farbigkeit vermuten lässt. Vielmehr kommt das Regal monothematisch mit Büchern die Piraterie betreffend daher. Ein Zusammenspiel aus wahren Begebenheiten und geraunten Mythen. Sich verquickende Realitätsebenen, die es der Sprache gleichtun, sich wandeln und erweitern, die als lebendiger Organismus stetig anwachsen.

Saâdane Afif: “The Pirates’ Who’s Who”, 2000-2004, 4 Ron Arad “Lovely Rita”, Bücherregale, (Edition von 6 + 2 A.P.), 177 Bücher, Glitzerfarbtropfen, Courtesy the artist, Installationsansicht, KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION, Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf.

„Lovely Rita“ tauft sich das Bücherschiff, das von Designer Ron Arad entworfen wurde. Wie die sprechenden Passagiere wächst auch die Regaledition stetig an, beherbergt eine sich mehrende Zahl an Erzählungen. Eine der Editionen gilt als unauffindbare Raubkopie („pirates copy“) und erinnert an hinter vorgehaltener Hand geflüsterte Geschichten rund um ein gefürchtetes Piratenschiff. Der Wind trägt Worte aus Seemannsliedern an das Regal heran, wenn auf den stützenden Säulen des Ausstellungsraums ringsum Songtexte zu finden sind. Sie wurden von Künstler-, Musiker- und Designer*innen verfasst und werden sich innerhalb der Laufzeit der Schau zu echten Klängen erheben, da es einen Termin zwecks Vertonung und Aufführung durch die belgische Band DWARF LIFT DWARF gibt.

Installationsansicht, Sharon Hayes und Saâdane Afif in KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION, Courtesy: Sharon Hayes: die Künstlerin und Tanya Leighton, Berlin; Saâdane Afif: der Künstler, Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf.

Von unruhigen Wassern umgeben, findet sich ganz nah dem Bücherregal ein Podest als Teil der Fünf-Kanal-Sound-Installation „Everything Else Has Failed! Don’t You Think It’s Time For Love?“ der Künstlerin Sharon Hayes. Im öffentlichen Raum vorgetragene politische Botschaften dringen ins Bewusstsein der Besucher*innen, legen in einer bewegten Zeit geistiges Zeugnis ab. Es sind „Speech Acts“, welche die Künstlerin auf der 51st Street in New York vor einer Filiale der Schweizer Großbank UBS inszenierte. Ungewöhnlich das Medium der getätigten Äußerungen: Der Liebesbrief. So wird das Pamphlet zu einer höchst intimen Lesung aus sehnsuchtsvollen Briefen, mit eindringlicher Stimme vorgetragen.

Sharon Hayes: “Everything Else Has Failed! Don’t You Think It’s Time For Love?”, 2007, Fünf-Kanal-Tonspur, 5 Sprühfarbenarbeiten auf Papier (gerahmt), je 50,8 × 60 cm, Courtesy the artist and Tanya Leighton, Berlin, Installationsansicht KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION, Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf.

Sprache ist ein an dynamischen Prozessen von Bevölkerungsentwicklungen und Migrationsbewegungen orientiertes System. Als lebendiges Etwas entstehen prozessual wiederum neue Sprachen aus der Sprache heraus, beispielsweise durch das kolonialistisch bedingte Aufeinanderprallen unterschiedlichster Kulturen. Julien Creuzet verbindet kreolische, englische und französische Elemente in Songtexten zu einem symbiotischen Miteinander. Es entsteht eine neue hybride Sprache, die sich auch in der Formsprache des Künstlers wiederfindet. Fischernetze, Kunsthaar und Turnschuhe fügen sich zu rituell anmutenden Figuren, gleichsam schamanistischen Objekten. So vermischen sich dem Alltag entnommene Gegenstände mit Überresten aus der Plastikproduktion, erinnern gefangen in den groben Maschen der Fischernetze an die Heimat Creuzets, die französischen Antillen.

Ketty La Rocca: “Le mie parole e tu?”, 1971, Text und Zeichnung auf Barytfoto, feinspitziger Stift, grobspitziger Stift, 50 x 60 cm, Courtesy Privatsammlung.

Poetische Worte ziehen sich wie ein Fluss durch die Ausstellung, deren Fokus auf dem wechselseitigen Spannungsverhältnis von Kunst und Sprache liegt. An den Ufern legt das Wasser zarte schriftliche sowie bildliche Beschreibungen von Alltagsszenen durch Künstlerin Thyra Schmidt frei, die genauso schnell vom alltäglichen Gang der Wellen fortgespült werden. Pastellfarbene Werbewelten richten an anderer Stelle in Sarah Kürtens Text-Bild-Collagen den männlichen Blick auf den weiblichen Körper. Texte geschrieben in einer Sprache, die Künstlerin Ketty La Rocca als männlich dominiert empfand und ihr aufgrund dessen misstraute. Die Rückbesinnung auf die Ursprünglichkeit der körperlichen Geste wird bei ihr als Ausdruck nicht vorcodierter Kommunikation zum Mittel der Wahl. Die Worte eines Mannes, genauer des Lebensgefährten der Künstlerin Sophie Calle, „Prenez Soin de Vous“ („Passen Sie auf sich auf“) aus einer an sie gerichteten Trennungs-E-Mail veranlassten Calle dazu, 107 Frauen eben jene E-Mail interpretieren zu lassen. Zuletzt lässt die Rauminstallation von Himali Singh Soin, in der sich Mythos mit aktuellem Zeitgeschehen verschränkt, Besucher*innen Briefmarken mit einem künstlerischen Motiv als Beiwerk des Geschriebenen als eine Art Flaschenpost in die Welt hinaustragen.

Himali Singh Soin: “static range”, 2020-fortlaufend, Animation, Courtesy the artist, Installation view, KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION, Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf, 2021.

Als Basis der Kommunikation bildet verbale und nonverbale Sprache den Kitt unserer Gesellschaft. Einerseits ständig präsent in einer globalisierten Welt, in der es dank Digitalisierung keine räumlichen Distanzen mehr gibt. Andererseits stößt Sprache an ihre Grenzen, wenn Diskutant*innen über tiefe Gräben hinwegrufen und sich zunehmend voneinander entfernen. Immer mehr Missverständnisse entstehen und Minderheiten werden nicht mehr gehört, wenn sich trennende Gräben zu unüberwindbaren Schluchten vergrößern.

Sarah Kürten: “Universal circus (disaster, fire or decomposition?)”, 2021, 3 Tintenstrahldrucke auf Acetat, Offsetpapier, Gouache, Transparentpapier (gerahmt),140 x 100 cm, 140 x 90 cm und 140 x 110 cm, Courtesy the artist and Galerie Max Mayer.

Poesie aber ist ein Weg, um sich aus einer durch notwendige Sensibilisierung erwachsenen Verengung des Diskurses zu befreien. Sie besitzt eine besondere Form der Offenheit, der Vieldeutigkeit, ist sie doch Ausdruck größtmöglicher sprachlicher Freiheit. Eine Freiheit, an deren Bug sich leichter in See stechen lässt angesichts einer immer bewegteren Welt und sich mit gelöster Zunge aufgeworfene Abgründe ein klein wenig einfacher umschiffen lassen.

WANN: Die Ausstellung läuft bis Sonntag, den 23. Januar 2022. Konzert: Saâdane Afif
DWARF LIFT DWARF singt „The Pirates’ Who’s Who” am Samstag, 13. November 2021, 18 Uhr im Rudas Studios, Zollhof 11, 40221 Düsseldorf.
WO: 
KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION, Kaistraße 10, 40221 Düsseldorf.

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