Wie Fliegen, nur andersherum Aurel Dahlgrün in der Kunsthalle Bremerhaven
7. Januar 2022 • Text von Julia Stellmann
Die Kunsthalle Bremerhaven ist geflutet. Verantwortlich dafür ist der Künstler Aurel Dahlgrün mit seiner Einzelausstellung „TIDE“. In einem Wechselspiel aus Nähe und Ferne, aus Ebbe und Flut lässt es sich in den Urquell allen Lebens abtauchen und bis an den Rand des bewussten Verstehens spülen.
Still, dunkel und spiegelglatt liegt es da. Etwa 4.800 Liter Wasser, welche die mit Teichfolie ausgekleidete Kunsthalle Bremerhaven fluten. Mit Hilfe der örtlichen Feuerwehr wurden die Wassermassen direkt aus der Wesermündung abgepumpt und zur Kunsthalle transportiert. Sie bedecken den Boden des größten der Ausstellungsräume nahezu ausschließlich, lassen nur einen schmalen Spalt am Eingang für die Besucher*innen frei. Im Wasser spiegeln sich die hölzernen Balken der Decke. Darunter führt eine Treppe aus dem Nass auf eine im Trockenen liegende Empore hinauf oder aber hinab ins Wasser, je nachdem. Im ersten Moment scheint es, als könne man die spiegelnde Oberfläche begehen und die Stiegen unbesehen betreten. Doch jeder Schritt auf das Wasser zu lässt es erbeben, bewirkt kleine Wellen, die sich von Erschütterungen ausgelöst in konzentrischen Kreisen zur Mitte des Raumes bewegen. Die Präsenz des Wassers ist physisch begreifbar, lässt sich mit allen Sinnen betasten, riechen und auf der Zunge beinah erschmecken. Das Weserwasser spiegelt nicht nur die Architektur der Kunsthalle, sondern die Besucher*innen selbst, wenn aus der scheinbaren Untiefe des flachen Wassers das eigene Abbild den neugierig forschenden Blick erwidert.
„TIDE“ ist der Titel der Ausstellung in einer von der Weser geprägten Stadt, in der das Wasser quasi identitätsstiftend ist. Manchmal ist es ganz nah, als würde man sich selbst hineinbegeben, manchmal ist es ganz fern, schauen wir in Drohnenperspektive von oben auf die Welt. Was zunächst dem Horizont gleicht, wird bei näherem Besehen zur schaumbekrönten Wasserlinie, zu einem Himmel aus Wasser, dessen tiefstes Dunkelblau bis ins Unendliche reicht. Am unteren Rand steht der Künstler selbst, vereinzelt wie Caspar David Friedrichs Mönch am Meer – ein winzig kleiner Punkt angesichts der in unmittelbarer Nähe sich brechenden Wellen, der nach oben und unten flutenden Weite. Daneben findet sich das gleiche Bild, der gleiche Standpunkt, aber an einem anderen Tag aufgenommen, an dem die Ebbe die unter dem Wasser befindliche Erde in tiefe Furchen legt, in Grate, die wie Eiskristalle sich verzweigen, zu allen Seiten hin ausgreifen als wär die Erde angesichts der Trockenheit aufgeplatzt. Was ist Himmel und was ist Wasser? Die Welt ist auf den Kopf gestellt und doch nicht verkehrt.
Großformatige Papierarbeiten schweben wie schwerelos vor der Wand des letzten Raumes. Aus dem tiefsten Massedunkel heben sich im Kabinett drei von Spots beleuchtete Arbeiten der Werkreihe „Retina“, deren Farbspiel schönste Muster wirft. Von Wasseroberflächen abgenommen, kartieren sie Verdichtungen, Bruchstellen wie Narben, ineinander geschobene Farbschollen. Das Wasser wurde zuvor mit Druckertinte und zerschredderten Fotografien eingefärbt. Das entstandene Erscheinungsbild spürt hinein ins Wasser, ist Landkarte dessen, was sich nur schwerlich begreifen und festhalten lässt.
Aurel Dahlgrün vertieft sich innerhalb seines vielgestaltigen Werkschaffens in die Geheimnisse des Wassers, das als Urquell allen Lebens gilt. Er begibt sich tatsächlich hinein, taucht ab, sogar ganz unmittelbar in Apnoe-Tauchgängen ohne Distanz schaffende Ausrüstung. In der unberührten Natur Schwedens nahe eines Sees aufgewachsen, ist das Wasser in die Biografie des Künstlers eingeschrieben, äußerte sich Dahlgrüns Interesse bereits damals im Tauchen, Angeln und in der Aquaristik. Nach Aufenthalten am anderen Ende der Welt studierte er an der Kunstakademie in Düsseldorf in der Klasse von Christopher Williams Fotografie. Seine Abschlussarbeit ist ein direkter Vorläufer der in Bremerhaven präsentierten Installation, zeigte sie doch ein flaches Becken voll kondensiertem Wasser, gewonnen aus über neunzehn Wochen im Raum gesammelter Luftfeuchtigkeit. „19 weeks of water“ wurde abschließend sogar mit dem renommierten Ehrenhof-Preis als beste Arbeit unter den Absolvent*innen ausgezeichnet. Derzeit residiert der Künstler im Rahmen des ein Jahr umfassenden Bremerhaven Stipendiums fernab der Heimat in der Küstenstadt.
An der Schnittstelle zur Wissenschaft widmet sich Dahlgrün einem Element, das in Form der Tiefsee heute noch weniger weit erforscht ist als das Weltall. Der Künstler geht dabei nicht nur inhaltlich an die Ursprünge zurück, sondern auch formal, wenn er sich eindringlich mit der Geschichte der Fotografie sowie den Auswirkungen von Reproduktionstechnik und Trägermaterial auf die Aura eines Werks beschäftigt, bis hin zum eigenhändigen Schöpfen des Papiers. Das Wasser fungiert innerhalb seines Schaffens gleichzeitig als Thema und als amorphes Material, als früheste Form des Abbilds der Realität.
Die Ausstellung ist einem veränderlichen Prozess unterworfen, einem Wandel des Erscheinungsbildes, wenn das Wasser über die Dauer der Schau langsam verdunstet, den Aggregatzustand ändert und in einem natürlichen Kreislauf die Form wechselt. Übrigbleiben werden Salzkristalle, die als Spuren der Gezeiten die Flut bezeugen. Seine Kunst fühlt sich entschleunigt wie das Tauchen an. Als würde die Zeit unter Wasser stillstehen und Bilder preisgeben, die niemals vollständig zu ergründen sind. Man möchte nie mehr auftauchen aus diesem malerisch anmutenden Bilderkosmos, möchte mit den Augen darin ertrinken. Dahlgrüns Kunst fühlt sich wie Fliegen an, nur andersherum.
WANN: Die Ausstellung „TIDE“ läuft noch bis Sonntag, den 16. Januar.
WO: Kunsthalle Bremerhaven, Karlsburg 4, 27568 Bremerhaven.