Bewegliche Gefüge
Auflösende Grenzen anschwellender Übergänge im Ve.Sch

23. August 2019 • Text von

In der Gruppenausstellung „peel adhesion“ verbinden sich die Räumlichkeiten des Projektraums Ve.Sch und die Ausstellungselemente zu einem relationalen Gefüge, in dem sich Affizierendes und Affiziertes näher kommen. 

Als erstes erobere ich den Stegosaurus. Es riecht nach Kaffee, als ich in dem Durchgangskanal stehe, den Johanna Charlotte Trede gebaut hat und der den sonderbaren Titel „Ich bin dem Stegosaurus den Buckel runtergerutscht“ trägt. Er besteht aus zwei weißen, parallel angeordneten Sockeln, in die schräg ineinander verwinkelte, geschwärzte Platten eingelassen sind. Schwarz, aber nicht Tiefschwarz, kein Dunkel, das mich schluckt und Leere zurücklässt, sondern ein Schwarz, das auffängt und trägt. Und nun gehe ich zwischen den Rückenplatten hindurch, die mich ebenso leiten wie mich auffordern, eine Position einzunehmen. Wo verortet sich die Betrachter*in in diesem Zwischenbereich, zwischen Objekt und Umgebung?

© Sophie Pölzl

Endlos an- und abschwellend ist der Ton, der schräg hinter mir zu hören ist. Die rotierende Konstruktion, auf der die beiden kleinen Lautsprecher angebracht sind, verstärkt das Gefühl von Schummrigkeit und Orientierungslosigkeit. Was ich höre, ist die Soundskulptur „Right now, an almost perfectly circular orbit“ von Heine Thorhauge Mathiasen – und eine akustische Täuschung: ein Ton, der immer tiefer wird, ein zweiter, der immer höher steigt, niemals eine Grenze erreicht und dabei immer gleich zu bleiben scheint. Ein Ton, der ins Nichts führt. Oder hinein in die rötlichen Farbfelder – oder schon Farbräume –, die Heine Thorhauge Mathiasen auf dem Boden und an der Wand positioniert hat, sodass sie sich spiegeln und ihre feucht-glänzende, nicht ganz glatte Oberfläche mich hineinsaugt. Hinein in die Ausstellung „peel adhesion“ im Ve.Sch, abseits der Stadt in einem Dorf, dessen Name, Kaltenleutgeben, so merkwürdig langgezogen ist wie die Siedlung selbst. 

Die ehemaligen Lagerräume, die das Ve.Sch seit rund einem Jahr bespielt, sind das Gegenteil eines aseptischen White Cube. Eine Interaktion zwischen Architektur und Kunstwerken wird geradezu herausgefordert: Die Wände sind roh und unverputzt und lassen die Geschichte ihres Materials sprechen. Hier steht ein wuchtiger schwarzer Ofen mit abgekappten Abzugsrohren, dort schimmern Stahlstreben im Betonboden durch, an den Wänden sind Fragmente von Graffiti-Tags zu erkennen. Überall begegnen die Materialien der ausgestellten Arbeiten den abgenutzten, gealterten Oberflächen des Raumes als suchten sie nach Verwandten. 

© Sophie Pölzl

Um in den zweiten Raum zu gelangen, muss zunächst eine Schwelle überschritten werden; sie windet sich als eine über zwanzig Meter lange Strohwurst – die tatsächlich ein Wurstelement enthält, nämlich ein eingeknüpftes Schinkennetz aus Polyester – an zwei Wänden entlang. Liesl Raffs „corn dolly“ hat ihren Ursprung in einem uralten Bauernkult. Das Stroh des abgeernteten Getreides wurde zu Puppen verflochten, die als gute Schutzgeister die nächste Ernte beschützen sollten. Hier in dieser naturfernen Lagerhalle wirkt die Strohwurst, die sich den rechten Winkeln der Wände akkurat anpasst, merkwürdig schmal, domestiziert und dekorativ. Kann sie überhaupt noch mit schützenden Naturkräften assoziiert werden?

© Sophie Pölzl

Die Wärme des Strohs kontrastiert Liesl Raff mit der Kälte von Blech. Der faserige Naturstoff der Strohwurst wird eingehegt von ineinander geschobenen, flachen schwarzen Sockeln aus sogenanntem Tränenblech. Sie bilden eine tief gelegte Bank – eine Art Bordstein, auf dem Jugendliche aus dem Dorf abhängen oder auf den Bus warten, der sie in die Stadt bringt. Die künstlich hergestellten Abnutzungserscheinungen an den Sitzkanten geben dem Objekt eine leicht melancholische Aura, als berge das Material Erinnerungen an vergangene Zeiten. Die Melancholie von Liesl Raffs Objekten überträgt sich auf die Bilder von David Postl. Sie sind Malerei, Druck, Papierschnitt und gleichzeitig Collage und Decollage. Durch die Verwendung von Seidenpapier, das auf die Leinwand geklebt, übermalt und wieder abgerissen wurde, entstehen zufällige Konturen, Farbflächen und Leerstellen. Hier und dort pellen Farb- und Papierreste ab. Die Bilder wirken fragil, als wollten sie sich scheu zurückziehen in die ihnen ähnlichen Wände, um mit deren Oberflächen zu verschmelzen. Sie scheinen auf der Schwelle zwischen weder und noch zu verharren.

© Sophie Pölzl

Die Ausstellung erzählt auf dezente Weise von Nähe und Beziehungen zwischen Objekten, Umgebung und Betrachter*in; über die Relation der Elemente zueinander in ihrer wechselseitigen Bestimmung. Der Gang durch die Räume verschiebt nicht nur das Gefüge in mir selbst, sondern auch das der Objekte. Der Titel „peel adhesion“ – was übersetzt die Haftkraft von selbstklebendem Material heißt und damit auch die Kraft impliziert, die benötigt wird, um ein klebendes Material von einer Oberfläche abzulösen – verweist damit auch auf das grundsätzlich reziproke Beziehungsgeflecht zwischen Affizierendem und Affiziertem. 

WANN: Die Ausstellung ist bis zum 31. August, Samstags von 15 bis 18 Uhr oder auf Anfrage zu sehen.
WO: Ve.Sch Kunstverein, Berggasse 6a, 2391 Kaltenleutgeben.

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