Frisch aus dem Archiv Künstlerische Forschung zu München nach 1945
15. April 2025 • Text von Julia Anna Wittmann
Was haben Kunstunterricht, Polizeiuniformen und Landschaftsarchitektur gemeinsam? Ihre Historie ist eng mit der Münchner Nachkriegsgeschichte verknüpft. Neun Künstler*innen haben in Archiven und Sammlungen über die bayerische Hauptstadt nach 1945 geforscht. Entstanden sind neue Werkkomplexe und individuelle Zugänge zur Geschichte.

Ein Bretterzaun aus Brennesselfasern versperrt den Blick aus dem Amerikahaus München nach draußen auf den Karolinenplatz, dem einstigen Zentrum des NSDAP-Parteiviertels. Mariella Maier thematisiert in ihrer installativen Arbeit “So schwer wie leicht” die architektonische Erinnerungskultur und den Wiederaufbau der Stadt nach 1945. Der in die Brennesselfaser geprägte Abdruck eines Bretterzauns verweist auf die provisorische Verbauung der vom US-Militär gesprengten Ehrentempel der NSDAP am Münchner Königsplatz. Eine schnelle Lösung für ein tieferliegendes Problem: Die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges.
Hêlîn Alas, Ina Ettlinger, Dani Gal, Thomas Galler, Mariella Maier, Cora Piantoni, Beo Tomek und Caroline Kapp sowie Christoph Westermeier sind für die Ausstellung “Ein Haus ohne Mauern bauen” in Archive und Sammlungen eingetaucht. Auf Einladung der Kuratorinnen Caroline Sternberg und Cora Piantoni haben die neun Künstler*innen zahlreiche Fotos, Protokolle, Magazine und Zeitzeug*innenberichte gesichtet, um eigene Fragestellungen zum baulichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau in München nach 1945 zu entwickeln. Die neu entstandenen Arbeiten spiegeln einen persönlichen Zugang zur Nachkriegsgeschichte Münchens wider, verteilt an verschiedenen zentralen Orten in der Stadt: im Amerikahaus München, im Glitch Bookstore, im Palmengarten des Luitpoldblocks und an den Fahnen vor dem NS-Dokumentationszentrum.

Im Amerikahaus München verweisen bunte Spielklötze, Fotos aus dem Kunstunterricht und hölzerne Quadrate auf kreative Prozesse und kindliche Imaginationskraft. Die langgestreckte horizontale Wandarbeit “World building scenario” setzt Hêlîn Alas aus verschiedenen Holzfragmenten und fotografischen Archivaufnahmen zusammen. Fotografien von Unterrichtssituationen zwischen 1945 und 2024 machen veränderte institutionelle Zwänge im Schulsystem deutlich. Welche Rolle die pädagogischen Programme in der Nachkriegsgeschichte spielten, macht Dani Gal in seiner Videoarbeit “Report on the Reeducation of Germany” deutlich. In einem inszenierten Videopodcast im Stil aktueller Populärmedien analysiert er Umfragen der amerikanischen Militärregierung im besetzten Nachkriegsdeutschland.
In einer großformatige Wandcollage sowie einem begleitenden Booklet von Beo Tomek und Caroline Kapp können Besucher*innen der Ausstellung “Ein Haus ohne Mauern bauen” eine künstlerische Recherche zur Landschaftsarchitektur und Stadtgestaltung in München nach 1945 nachverfolgen. Tomek und Kapp legen den Fokus in ihrer Arbeit “Blut und bodenständig” auf die Biografie des Landschaftsarchitekten Alwin Seifert, der den Titel des Reichslandschaftsanwalts trug. Sie zeigen damit den fließenden Übergang zwischen nachhaltiger Ideen und völkischer Denkmuster.

Thomas Galler beschäftigt sich mit der fotografischen Repräsentation von Uniformen, insbesondere mit der Historie der Polizeiuniform. Sein eigener Prototyp aus hellem Stoff besteht aus einer Hose mit Gürtel, einem kurzärmlichen Hemd und einer Weste mit zahlreichen Taschen. Die losen Nähten und der dünne Stoff lassen seine Version einer Polizeiuniform überraschend instabil und unpraktikabel wirken – als hätte Galler das intimste Innerste der Uniform offengelegt. Die verwundbare Seite des repräsentativen Kleidungsstückes wird sichtbar und der Zweck der Uniform scheint obsolet.

Im Luitpoldblock, in unmittelbarer Nähe des Amerikahauses und des NS-Dokumentationszentrums, bringt Christoph Westermeier bisher nicht-sichtbare queere Biografien an die Öffentlichkeit. In Zusammenarbeit mit dem Forum Queeres Archiv München e.V. präsentiert Westermeier großflächige Fotografien an den Schaufenstern im geschützten Innenhof des Luitpoldblocks. Persönliche Geschichten queerer Menschen im Nachkriegs-München in Form von Briefen, Zeitschriftenartikeln und privaten Fotografien treten aus dem Archiv heraus und in Kommunikation mit den Besucher*innen.
Zusätzlich zu den künstlerischen Arbeiten zeigen die Kuratorinnen Sternberg und Piantoni zum Thema “Mutige Frauen” fotografisches Material über das gesellschaftliche Engagement von Frauen in München nach 1945 im Glitch Bookstore. Gemeinsam mit den Arbeiten der neun Künstler*innen fügen sich die unterschiedlichen Komponenten der Ausstellung “Ein Haus ohne Mauern bauen” zu einem vielschichtigen Beitrag der aktuellen Erinnerungskultur zusammen. Mit Blick auf den gegenwärtigen politischen Rechtsruck westlicher Großmächte mit Hang zur Geschichtsrevision ist die Bedeutung einer aktiven und lebendigen Aufarbeitung der Vergangenheit nicht zu unterschätzen.
WANN: Die Ausstellung “Ein Haus ohne Mauern bauen” ist noch bis Samstag, den 31. Mai, zu sehen.
WO: Überblick auf der Ausstellungswebsite.