Die Pandemie als Hyperobject
Aleksandra Domanović bei Tanya Leighton

14. Mai 2021 • Text von

Die Ausstellung “WORLDOMETERS” der Künstlerin Aleksandra Domanović in der Galerie Tanya Leighton ist eine geniale Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie als Hyperobject. Die Ästhetik ist technologisch-modern und poetisch zugleich.

Aleksandra Domanović: Installation View, “Worldometers”. Tanya Leighton, Berlin. 30 April – 5 June 2021. Photography: Gunter Lepkowski.

Die Corona-Pandemie hat uns fest im Griff, sie durchdringt uns, verändert uns, sie bestimmt unseren Alltag und doch können wir sie als Ganzes kaum begreifen. Was ist das, was uns seit einem Jahr gleichsam auf Trab und im Stillstand hält? Wie ist dieses Phänomen zu beschreiben, mit dem wir alle ganz persönlich umgehen müssen und von dem wir schon jetzt wissen, dass es unser aller Leben langfristig formen wird? Für die Ausstellung “WORLDOMETERS” in der Galerie Tanya Leighton hat die serbische Künstlerin Aleksandra Domanović Objekte geschaffen, die diesen Fragen eine Form verleihen.

Wie vor den Türen der Galerie Tanya Leighton ist auch innerhalb der Galerieräume Distanz gefragt. Es gilt eine 1-Meter-Abstandsregel zu den Ausstellungsobjekten, aus Sicherheitsgründen. Langsam nähere ich mich den Skulpturen an, die auf Boden und Decke der Galerie verteilt sind: sieben LED-Ventilatoren auf gedrechselten Sockeln aus buntem Mineralwerkstoff und Holz. Flüchtig ist mein erster Eindruck. Dies liegt an der schnellen Rotation der Ventilatoren-Blätter, die den Projektionen ähnlich wie die Drehung der Sockel ihre Materialität verleiht, aber auch an der Undefinierbarkeit vieler Bilder. Es erscheinen Zahlen in Rot und Grün, Aufnahmen von wachsenden Pilzen sowie Fotografien des kleinen Rainer Maria Rilke, von seiner Mutter als Mädchen verkleidet.

Gif einer Hologramm-Arbeit von Aleksandra Domanovic.
Aleksandra Domanović: Worldometer 1, 2021. Courtesy of the artist and Tanya Leighton, Berlin. Photography: Gunter Lepkowski.

“WORLDOMETERS”, der Titel der Ausstellung, geht zurück auf eine gleichnamige Website, die Echtzeit-Daten liefert zu allem Möglichen – und nicht zuletzt zur Corona-Pandemie. Tagesaktuell bespielt Aleksandra Domanović ihre Skulpturen mit den Corona-Inzidenzen sowie mit der Auslastung der Intensivbetten in Berlin. Die Farben der Daten – Rot, Gelb und Grün – folgen dem berühmten Ampelsystem. Nach 25 Ausstellungstagen werden die Zahlen archiviert und so zu Memorabilien einer Ausstellung in Pandemie-Zeiten, eine Sammlung von Gegenwart für die Zukunft, die bald Vergangenheit sein wird. 

Gemeinsam mit den anderen Darstellungen erscheinen die Projektionen bald immer mehr wie Assoziationsketten, wie ein psychologisches Porträt der Künstlerin und wie ein Abbild ihres Arbeitsprozesses im vergangenen Jahr. Wie viele von uns informierte die Künstlerin sich jeden Morgen über die aktuellen Corona-Zahlen. Sie besuchte darüber hinaus einen Lesekreis zu den Elegien von Rainer Maria Rilke, um sich die Zeit zu vertreiben. Fragen der Wahrnehmung vermischten sich in ihrem Denken mit Erinnerungen an einen ungewollten LSD-Trip ihrer Jugend, bei dem sie Pilze wachsen sah und ihr Muster aus “+” und “–” erschienen. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, Erleben und Erinnerung – in Domanovićs Skulpturen ist all das in schnelle Drehungen verpackt und zu Bildern geformt. Dies wirkt technologisch und poetisch zugleich.

Aleksandra Domanović: Installation View, “Worldometers”. Tanya Leighton, Berlin. 30 April – 5 June 2021. Photography: Gunter Lepkowski.

Die Künstlerin Aleksandra Domanović macht mit ihrer Ausstellung “WORLDOMETERS” auch bildhaft, dass die Corona-Pandemie in die Kategorie der Hyperobjects passt und setzt diese damit in einen größeren Kontext. Der Begriff geht auf den Philosophen Timothy Morton zurück. Die Idee dahinter: Prozesse, die so groß und unbeschreiblich sind, dass sie sich unserer einfachen Vorstellung entziehen sollen als Objekte begriffen werden. Entitäten, deren Auswirkungen wir am eigenen Leib spüren und die wir als Ganzes niemals fassen können. Domanovićs Skultpuren können als persönliche, poetische und philosophische Reflexion darüber verstanden werden. Sie sind Abbild von Persönlichem, das Teil eines unbeschreiblich Großen ist.

 “WORLDOMETERS” in der Galerie Tanya Leighton bildet einen Denkraum, der uns im Hier und Jetzt verortet, der uns mitnimmt, in die Vergangenheit der Künstlerin und uns nachdenken lässt über die Zukunft. Das auf den ersten Blick karge Ausstellungsdesign, die Einbettung der Skulpturen in Tradition und Moderne ebenso wie in die Architektur der Galerie Tanya Leighton ist rundum gelungen. Und sie ist schon jetzt ein fantastisches Beispiel dafür, wie Corona-Kunst aussehen kann.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Samstag, den 5. Juni. 
WO: Galerie Tanya Leighton, Kurfürstenstraße 156, 10785 Berlin.

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