Geteilte Stimmbänder
Adji Dieye im Fotomuseum Winterthur

23. Mai 2023 • Text von

Im Rahmen des biennalen Formats “Photographic Encounters” zeigt das Fotomuseum Winterthur die Arbeit “Aphasia” von Adji Dieye. Die italienisch-senegalesische Künstlerin setzt sich in der Zweikanal-Videoinstallation mit Sprache als politischem Medium auseinander. Sprache erscheint dabei als Mittel der Konstruktion nationaler Identität und entfaltet in ihrer Poetik eine eigene Widerstandskraft.

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Installationsansicht Adji Dieye – Aphasia, Fotomuseum Winterthur © Fotomuseum Winterthur / Conradin Frei.

Es ist Nacht. Etwa zehn Männern und Frauen stehen im Pulk zusammen. Sie tragen lange Gewänder und haben die Gesichter einander zugewandt, sodass nur ihre Rücken zu sehen sind. Sie singen. Abwechselnd wie im Kanon, dann wieder gemeinsam erheben sich ihre Stimmen in die Nacht. Dabei bewegen sie sich rhythmisch zu ihrem Gesang. Passant*innen laufen vorbei. Einer gesellt sich zu ihnen und wird Teil der tönenden Gruppe.

Mit der Videoinstallation „Aphasia“ präsentiert das Fotomuseum Winterthur mehrere von Adji Dieye aufgenommene Sprachperformances. Die Stimmen einer singenden Gruppe, eines jungen Mannes, einer älteren Frau und der Künstlerin selbst dringen in den sie umgebenden Raum.

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Adji Dieye, Videostill aus Aphasia, 2022 © Adji Dieye.

Aufführungs- und Aufnahmeort der erfassten Sprechakte ist Dakar. Bis 1960 war die Hauptstadt des Senegal französisches Kolonialgebiet. Französisch wurde damals als offizielle Amtssprache eingeführt und ist es noch heute. Allerdings spricht diese nur ein Teil der Bevölkerung, etwa 20 Prozent. Die senegalesische Verfassung führt heute zahlreiche weitere Landessprachen an, etwa Diola, Mandinka, Fulfulde, Seereer oder Soninke.

Dieye zeigt Mitglieder der senegalesischen Community in performativem Umgang mit ihren eigenen Sprachen. Nicht die Worte der ehemaligen Kolonialmacht, sondern die unterschiedlichen Muttersprachen der afrikanischen Bevölkerung erhalten eine Bühne. Sie werden gesprochen, gesungen, aufgeführt und dabei nicht übersetzt. Die Bedeutung der geteilten Worte versperrt sich folglich den allermeisten Rezipierenden im Museum. Sie müssen sich mit dem Klang und der Sprachmelodie der aufgenommenen Stimmen zufriedengeben.

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Eine Sequenz von „Aphasia“ zeigt eine ältere Frau in grün-rotem Gewand. Sie sitzt auf ihrem Bett und erzählt eine Geschichte. Ihre Stimme ist erst leise, dann wird sie laut. Sie gewinnt im Verlauf des Sprechakts mehr Nachdruck und scheint in ein Klagelied überzugehen. Die Gestik und Mimik der Sprechenden unterstreichen den Ausdruck ihrer Bitten. Dann werden die Worte schneller und die Sprechende dreht ihre Handgelenke im Rhythmus der Silben. Das Sprechen erfasst ihren Körper und gewinnt sogar eine tänzerische Dimension. Wovon genau die Frau spricht, ist nicht klar. Dennoch stellt sich beim Zuhören ein Gefühl der Teilhabe ein.

Dieye bringt in ihrer Arbeit eine performative Poetik von Sprache zum Ausdruck. Die Wahrnehmung des gesprochenen Wortes liegt zwischen Nichtverstehen und Verstehen, zwischen Laut- und Körpersprache. Mit dem Titel „Aphasia“ verweist die Künstlerin auf die Situation dieser unfreiwillig unverstandenen Stimmen. Der Begriff beschreibt einen krankhaften Zustand des Sprachverlusts. Bezogen auf die Präsentation der kolonial verdrängten afrodiasporischen Stimmen gewinnt er eine politische Dimension.

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Adji Dieye, Videostill aus Aphasia, 2022 © Adji Dieye.

In dem zweiten Kanal ihrer Videoarbeit tritt Dieye selbst als Sprechende auf. Sie steht auf einem Dach, auf abgelegten Rohren, auf einem Sandhaufen und in einem Innenhof. Die Künstlerin wählt diese vermeintlichen Nicht-Orte für ihre Performance nicht zufällig. Es handelt sich dabei alles um ehemalige Wohngebiete indigener senegalesischer Gemeinschaften. Heute sind es im Abriss oder Aufbau begriffene Plätze, die selbst keinen Hinweis mehr auf ihre ursprünglichen Bewohnenden geben.

Dieye steht im Staub und spricht in gebrochenem Französisch. Sie hält mehrere beschriebene Seiten in den Händen und liest davon ab. Es handelt sich um öffentliche Reden der ehemaligen Präsidenten Senegals. Die Künstlerin hat diese dem Nationalarchiv in Dakar entnommen. Während sie die Reden rezitiert, kneift sie die Augen zusammen. Es scheint sie anzustrengen, die Laute der fremden Sprache zu formen. Es wirkt, als mühe sie sich ab, deren Inhalt zu verstehen.

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Installationsansicht Adji Dieye – Aphasia, Fotomuseum Winterthur © Fotomuseum Winterthur / Conradin Frei.

Dieyes Arbeit rückt die Handlungsmacht und -ohnmacht der Stimmen des Senegal in den Blick. Durch die Kolonialisierung des Landes wurden diese ausgegrenzt, entwertet und lange nicht als essenzieller Teil der Kultur und nationalen Identität des Landes anerkannt. „Aphasia“ macht historisch ungehörte Stimmen hörbar und entfaltet auf diese Weise deren politisches Potenzial. Ihre Widerstandskraft liegt in der Vielheit ihrer Sprachen und in deren unvermittelt sinnlicher Ausdruckskraft.

WANN: „Aphasia“ von Adji Dieye ist bis Montag, den 29. Mai, zu sehen.
WO: Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 44-45, 8400 Winterthur, Schweiz.