Abschied eines Meisters François Morellet im Zentrum für internationale Lichtkunst Unna
5. Oktober 2016 • Text von Franziska Mathée
Das Ruhrgebiet hat 53 Städte und in manchen wird durchaus passabler Fußball gespielt. Doch nach Unna fährt man nicht zum Fußballgucken. Ich steige also aus, wo andere einsteigen: Sonderzug Richtung Dortmund, echte Liebe zum Ballspielverein. Seit “Bang Boom Bang” ist Unna für mich ein heimlicher Sehnsuchtsort gewesen, wegen des Zentrums für Internationale Lichtkunst wird dieser Traum nun Wirklichkeit.
Zum Fußball gehört, ganz klar, ein gutes Bier. In der Lindenbrauerei wurde schon 1979 das letzte Fass gebraut. Tief unter der Erde erstrecken sich über 2400 Quadratmeter Kellerlabyrinth die ehemaligen Gärbecken und Eisräume, die seit 2001 das Zentrum für Internationale Lichtkunst beherbergen. Werke großer Künstler wie Olafur Eliasson oder James Turrell sind seitdem in Unna zuhause. Eliasson beispielsweise hat einen künstlichen Vorhang aus Wasser installiert, einen Entwurf zum Stoppen des freien Falls. Und tatsächlich, durch das Flackern eines Stroboskops wird der Fall der Tropfen angehalten, zumindest in den Augen des Betrachters.
Am 11. Mai ist der einflussreiche Lichtkünstler François Morellet aus dem französischen Cholet nur wenige Tage nach seinem Neunzigsten Geburtstag verstorben. Das Zentrum für Internationale Lichtkunst widmet ihm nun eine Retrospektive. Wobei der Direktor John Jaspers relativierend hinzufügt, Retrospektive sei ein großes Wort für eine kleine Ausstellung. „Nur“ zehn Werke sind installiert, die das Schaffen Morellets von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart dokumentieren.
Beim Betreten des Ausstellungsgewölbes wird klar, weswegen diese vermeintlich kleine Anzahl an Werken über die wahre Größe der Ausstellung nichts auszusagen vermag. Die großzügige Präsentation der Werke gibt den einzelnen Arbeiten den nötigen Raum für ihre Strahlkraft. Nicht an klassischen, weißen Wänden, sondern direkt auf dem unverputzten, teils bröckelnden Mauerwerk der einstigen Kühlkeller sind die abstrakten Zeichnungen der Serie „Gesticulation“ aus dem Jahr 2015 installiert. Jeweils sechs zu Winkeln zusammengesetzte Neonröhren tränken den gefugten Grund mit kaltem, klarem Licht. Die Lichtlinien fügen sich zu einer in sich abgeschlossenen Zeichnung, werfen aber auch weitreichende Schatten und füllen so ganz selbstverständlich den gesamten Raum aus. Ihr hartes Leuchten und ihre minimalistische Eleganz unterstreichen die Patina der postindustriellen Gewölbe. Das ist typisch für Morellets Spätwerk, der Bezug auf die umgebende architektonische Situation, das Spiel mit der Raumwahrnehmung des Betrachters.
Durch die stringente Verwendung abstrakter, minimalistischer Geometrie neigen Morellets Werke dazu neutral, ästhetisch nahezu perfekt zu wirken. Die subjektive künstlerische Handschrift wird durch die industrielle Fertigung des Materials auf ein Minimum reduziert. In vielen seiner formal schlichten Arbeiten wiederholt sich eine scheinbar emotionslose Rationalität ebenmäßiger Linien, konstruktivistischer Gittermuster und zumeist kalten Neonlichts. Er selbst sagte darüber: „Ich liebe die Strenge der Geometrie, aber noch mehr liebe ich es, alle Strenge zu ignorieren.“ Im hinteren Teil der Ausstellung ergänzt und überschreitet „Mal barré après reflexion No. 5“ beispielsweise die Geometrie des Raumes. Zwei Linien im Boden, deren industrieller Zweck sich nicht mehr eindeutig bestimmen lässt, weisen fluchtpunktartig den Weg auf das in sich unruhig erscheinende Kunstwerk, das inspiriert wurde von Lichtreflexionen auf Meereswellen.
Morellet bringt Ordnung ins Chaos, nur um durch ironische und zufällige Strategien erneutes Chaos in der von ihm geschaffenen Ordnung zu erzeugen. Bei aller Faszination für Klarheit und Struktur ist nicht zuletzt der Humor ein zentraler Faktor in seinen Werken. Die Arbeit „Néon abscon“ von 1968 scheint beim ersten Hinsehen bloß eine Anordnung roter Kreise, Halbkreise und unterstreichender Linien zu zeigen und mag vielleicht an eine Leuchtreklame erinnern. Aber manchmal, da blinken für den Bruchteil einer Sekunde bloß einige der Röhren auf und hinterlassen beim Betrachter die Frage, ob er gerade wirklich die stilisierten Schemen einer Nackten gesehen, oder ob ihm sein Gehirn bloß einen Streich gespielt hat. Der Lichtkunstpionier sagte dazu: „Ein Museum ist wie ein Picknickplatz, wo man das verzehrt, was man mitgebracht hat.“
Apropos Picknick: Nach dem Besuch im Lichtkunstzentrum kann man im Refugio ziemlich gut essen.
WANN: Die Ausstellung „Morellet“ läuft noch bis zum 29. Januar 2017. Ein Besuch ist in geführten Begleitungen dienstags bis freitags um 13, 15 und 17 Uhr möglich. Am Wochenende und an Feiertagen finden stündlich von 13 bis 17 Uhr Führungen statt, am ersten Sonntag im Monat sind offene Begehungen möglich.
WO: Im Zentrum für internationale Lichtkunst, Lindenplatz 1, 59423 Unna. Auch die Zeit findet, dass Unna einen Besuch wert ist.