Zuviel des Guten ist auch ganz geil
Reeperbahnfestival 2017

26. September 2017 • Text von

Alle Jahre wieder stellt sich beim Blick aufs Programm das vertraute Gefühl der Überforderung ein, auf dem Reeperbahnfestival wird einfach unglaublich viel geboten. Von Musik bis bildender Kunst, Performance bis Lesung, Food Truck bis Live-Radio ist einfach alles dabei, was Spaß macht.

Madeleine Christin Leroy: Blacktension III Foto: Christina Grevenbrock

Da fällt es manchmal schwer, auch fürs Kunstprogramm ein bisschen Zeit freizuhalten, obwohl sich das definitiv lohnt. Schon beim ersten Schlendern über den Spielbudenplatz fällt gleich die große Leinwand am Ende der Taubenstraße in den Blick, auf der im Wechsel Videos gezeigt werden. Hier begegnen auch alte Bekannte: Budny and Rossmann sind im dritten Jahr in Folge mit ihren Machern Syrina Hartje und Waldemar Meln vor Ort. Diesmal haben sie neben ihren Animationsfilmen einen ganzen Kiosk voller Requisiten mitgebracht.

Marleen Andreev, 134 / Hamburg, 2017
Ausschnitt

Überhaupt wirkt die Ausstellungssituation in der Taubenstraße sehr viel einladender als in den Vorjahren. Verantwortlich zeichnet dabei zu großen Teilen die Affenfaust Galerie – sie haben den Hauptteil der Kunstaktionen in der Taubenstraße kuratiert. Das Programm ist rund, und beschäftigt sich mit dem Stadtraum als Erfahrungs- und Gestaltungsraum. Kleine Büdchen locken, bei den Künstlern und Performern vorbeizuschlendern und sich die Arbeiten erklären zu lassen. Ab und zu kommt einem dabei ein schwarztentakliges Gummiwesen entgegen: “Blacktension III” ist eine Aktion von Madeleine Christin Leroy, bei der Performer in Anzügen stecken, die über und über mit langen schwarzen Luftballons besetzt sind. Wie Seeanemonen oder Aliens wabern sie durchs Festivalgetümmel.

Hamid Pourazari & Saede Niyazkhani, Alzheimer

Überhaupt ist viel performative Kunst am Start, was dem Festival gut steht. Die Glitch AG stellt in ihrer interaktiven Performance Fragen nach der Nutzung des urbanen Raums. Marleen Andreev hält die Silhouetten der Passanten fest und Hamid Pourazari & Saede Niyazkhani geben mit “Alzheimer” einen Vorgeschmack auf das Wundern über Tanawo‘-Festival, das im nächsten März in Hamburg stattfinden wird und die aktuelle iranische Kunstszene in die Hansestadt holt.

Quintessenz: Collusion, im Hintergrund der Dome, Foto: Nina Ivanov

Nicht nur in der Taubenstraße, auch auf dem in diesem Jahr neu eingerichteten “Festival Village” auf dem Heiliggeistfeld fühlen sich die Besucher an ferne Welten erinnert, jedenfalls sieht der halbkugelförmige “Dome” schwer nach UFO aus. Im Inneren handelt es sich um eine riesige kuppelförmige Projektionsfläche, wie sie eigentlich in Planetarien genutzt wird. Hier werden animierte 360° Videos der künstlerisch-musikalischen Art gezeigt. Eine überwältigende Erfahrung!

Ausstellungsansicht Containerlove

Nebenan ist die Kunst in bescheidenere Behausungen eingezogen: gleich zwei Container beherbergen nicht minder ansprechende Aktionen. Da ist zum einen die Containerlove Pop-up-Galerie – 20 internationale Nachwuchsfotografen zeigen hier dicht an dicht lauter Lieblingsbilder zu den Themen Liebe, Körper, Queerness und Vielfalt. Nur wenige Schritte weiter lockt ein zweiter, goldglänzender Container. Shared_Studios haben hier ein Portal zu fremden Welten aufgebaut. Baugleiche Container befinden sich in verschiedenen Städten auf der Welt, in Echtzeit können hier Besucher quer über den Globus miteinander sprechen. Mir sitzen zwei Mädels aus Colorado Springs gegenüber, ihre Seite des Portals ist wenige Tage zuvor auf dem Unicampus aufgetaucht. Wir unterhalten uns über das Festival und “International Sign Language” – eine von ihnen lernt die nämlich gerade und zeigt wie “Schön, dich kennenzulernen” ganz ohne Worte ausgedrückt werden kann. Und so schließt sich der Kreis, der alle Kunstaktionen auf dem diesjährigen Festival vereint: Menschen begegnen sich in der Stadt und nehmen ihren Raum neu in Beschlag. Chapeau für so viel roten Faden!

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