Zurück in die Zukunft
Hello World. Revision einer Sammlung

10. August 2018 • Text von

Wie gehen Institutionen mit ihrem kulturellen Erbe um? Die postkoloniale Debatte ist endlich in den Museen angekommen. Das ist gut so, kann aber nur der Anfang sein. Ein Ausstellungsbesuch bei „Hello World“.

Ausstellungsansicht „Hello World. Revision einer Sammlung“ / Agora, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2018, © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Thomas Bruns

Als Christoph Kolumbus im Jahr 1492 mit seinem Schiff nach Übersee aufbrach, ahnte er nicht, was dies für schwerwiegende und langjährige Konsequenzen für die durch die europäische Expansion kontinuierlich unterdrückten indigenen Völker haben würde. Auch ahnte er nicht, dass es noch weitere 700 Jahre dauern würde, bis sich die westliche Welt diesem Teil der Geschichte stellen würde. In Berlin am Hamburger Bahnhof passiert jetzt genau das: In einer großangelegten und von der Kulturstiftung des Deutschen Bundes geförderten Ausstellung unterziehen die Kuratoren und Gastkuratoren des Museums die Sammlung der Nationalgalerie, zu der auch die des Hamburger Bahnhofs gehört, einer kritischen Revision. Sie fragen, wie die Museumssammlung ausgesehen hätte, wäre die Ankaufspolitik der musealen Gründungszeit und der Folgejahre nicht von dem eurozentrischen, hegemonialen Blick geprägt gewesen, der die Sammlung bis heute bestimmt.

Pierre Bismuth, The Jungle Book Project, 2002, Video (75 min), 19 Zeichnungen (jeweils 29,7 x 21 cm), Kissen und Teppich, Berlin, 2018, © Foto: Sonja Baer

Wenn man inmitten der großformatigen Installation „The Jungle Book Project“ von Pierre Bismuth auf die bunten Kissen zugeht, spaziert man ahnungslos in den düsteren Teil der Kolonialgeschichte hinein. Die aus Kindheitserinnerungen vertrauten Bilder von Mowgli, der Schlange Kaa und dem Tiger Shir Khan flimmern über die Wand. Doch welche Sprachen sprechen sie eigentlich? Shir Khan spricht britisches Englisch, Mowgli Spanisch, der Elefantenführer, Colonel Hathi, antwortet auf Französisch. Auch die anderen Charaktere kommunizieren untereinander in verschiedenen Sprachen. Durch dieses sprachliche Wunder lenkt Bismuth die Aufmerksamkeit auf die literarische Vorlage, denn ohne sie, ohne ein gemeinsames Stück Referenzkultur, wären wir nicht in der Lage, der Handlung zu folgen und somit auch befähigt, die sprachliche Differenz zu überwinden. Die Vorlage für Walt Disneys „Dschungel-Buch“ von 1967 war ein Text von Joseph Rudygard Kipling, der erstmals 1894 publiziert wurde. Die darin beschriebenen Charaktere zeigen entsprechend des damaligen Zeitgeistes eine positive Einstellung zum Kolonialismus. Walt Disney änderte die Charaktere für seinen Film zwar stark ab, dennoch ertappt man sich dabei festzustellen, wie schwer es ist, sich dem kolonialen Diskurs zu entziehen, wie selbstverständlich er sich in die Kinderzimmer eingeschlichen hat, ohne dass man sich dessen bewusst war.

Walter Spies, Rehjagd, 1932, Öl auf Leinwand, 60 × 50 cm, © 2012 Adrian Vickers. Nachdruck aus „Balinese Art“ von Adrian Vickers. Herausgegeben von Tuttle Publishing, Periplus Editions (HK) Ltd

Anders als sein Zeitgenosse Paul Gauguin, setzte sich der deutsch-russische Künstler Walter Spies intensiv mit der Kultur der indigenen Bevölkerung auseinander, nachdem er aus dem Berlin der 1920er-Jahre in die niederländische Kolonie auf Bali ausgewandert war. Er tauchte dort tief in die kulturelle Tradition der balinesischen Malerei ein und setzte sich mit den Werken zeitgenössischer lokaler Künstler auseinander. Seine Arbeit „Rehjagd“ von 1932 greift balinesische Kulturkonzepte auf und ist gleichzeitig stilistisch westlich geprägt. Seine Arbeiten lassen sich keinem kulturellen Konzept mehr zuordnen. Sie sind sowohl balinesisch als auch westlich. Durch den musealen Kanon fielen seine Gemälde hindurch, weil sie in ein eurozentrisches Raster nicht so recht passen wollten. Durch den neuen Ansatz der Ausstellungsmacher stehen nun Künstler im Blickfeld, die sich bisher schlecht verorten ließen und somit nie Bestandteil eines Kanons werden konnten.

Spies‘ Bilder hängen gegenüber von Arbeiten des balinesischen Künstlers Anak Agung Gede Soberat, mit dem Spies in engem Austausch stand. In diesem sehr gelungenen Teil der Ausstellung schafft es die Kuratorin, außereuropäische Kunst tatsächlich gleichberechtigt mit westlicher Kunst zu hängen. Durch die kluge Anordnung der Arbeiten entsteht ein spannender Dialog, der immer wieder das althergebrachte Sammlungskonzept infrage stellt.

Tita Salina, 1001st Island – The Most Sustainable Island in Archipelago, 2015 (Still), HD-Video, Farbe, Ton, 14‘ 11“ 
© Tita Salina

Mit dem 35 mm Film „Die Insel der Dämonen“ von 1933 steuerte Spies einen wesentlichen Anteil zu der Verbreitung von Balis Image als exotischem Paradies bei, was den touristisch-wirtschaftlichen Interessen der holländischen Kolonialherren zuspielte. Der halbdokumentarische Film zeigt das balinesische Dorfleben, in dem busenentblößte Frauen exotisiert werden, das „Museum Bali“ also, in das die Kolonialherren die dortige Bevölkerung durch bestimmte Verhaltenskodizes zwingen wollten.

Ein kritisches Gegengewicht zu Spies flicht die Kuratorin ein, indem sie Spies‘ Film die Video-Arbeit der zeitgenössischen indonesischen Künstlerin Tita Salinas „1001st Island – The Most Sustainable Island in the Archipelago“ von 2015 zur Seite stellt. Salinas Videoarbeit bricht mit den in Spies‘ Film aufgestellten Klischees: Als weibliche Künstlerin posiert sie in einem schwarzen Anzug auf ein zusammen mit Fischern gebautem Floß aus Plastikmüll auf dem Ozean in der Jakarta Bay. Sie setzt damit ein Zeichen gegen die idealisierte Vorstellung von Indonesien als Paradies und thematisiert zugleich die Umweltverschmutzung in ihrem Land.

Ausstellungsansicht „Hello World. Revision einer Sammlung“ / Woher kommen wir?, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2018, © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

An anderer Stelle durchschreitet man einen von Skulpturen der westlichen Avantgarde dominierten Raum und schämt sich ein bisschen für den westlichen Blick auf die Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Auseinandersetzung mit alternativen Kulturkonzepten, da man das Eigene als überholt verstand, implizierte für Künstler, wie an Karl Schmidt-Rotluffs „Die Stehende“ zu sehen ist, die Aneignung formalistischer Kriterien fremder Kulturen, die der eigenen stets als „unterlegen“ erachtet wurden. Auf diese Weise griffen die Künstler den hegemonialen Machtdiskurs auf und bildeten ihn ab. Man nimmt die meisterlichen Skulpturen der westlichen Moderne erstaunt zur Kenntnis und stellt sich die Frage, wieso dieser Raum überhaupt westlich dominiert ist? Sollte es hier nicht um eine kritische Hinterfragung der eigenen Sammlung gehen? Man wundert sich, wo sich die Gegenpositionen befinden, die den westlichen Blick auf die Sammlung kritisch hinterfragen. Hätte es im Ethnologischen Museum nicht genügend Material gegeben? Dann denkt man sich, dass es vielleicht auch ein guter Ansatz gewesen wäre, ganz uneitel die klassische Moderne einmal von ihrem Sockel zu stoßen. In diesem Teil der Ausstellung ist davon nicht viel zu sehen. Durch die ungleiche Gewichtung der Arbeiten wird hier der westliche Kanon reproduziert.

Die Suche nach den blinden Flecken in der Sammlung erweist sich mit ihrer themenorientierten Hängung an vielen Stellen als probates Mittel, neue Dialoge abzubilden und überhaupt erst einmal sichtbar zu machen. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung und der Anfang vom Ende einer Ära. Auch deshalb ist „Hello World“ mehr als eine Ausstellung: Es geht hier um die Frage, wie Museen in der Zukunft aussehen werden.

WANN: Noch bis zum Sonntag, den 26. August, kann die Ausstellung besichtigt werden.
WO: Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin

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