Tief im Westen
Latenzraum Ruhrgebiet

2. April 2019 • Text von

Seit Jahren wird davon gesprochen, dass das Ruhrgebiet, das zu bieten hat, was Großstädte wie München, Berlin oder Köln immer mehr verspielen: bezahlbare Mieten etwa und damit auch der Raum sowie die Aufmerksamkeit für neue Ideen in der Kunst- und Kulturarbeit. Unsere Gastautorin Mira Anneli Naß hat sich in der nicht mehr staubigen Metropolregion Rhein-Ruhr umgesehen.

Maximiliane Baumgartner im Neuen Essener Kunstverein, 2019, image copyright and courtesy of the artist and Neuer Essener Kunstverein/Philipp Kurzhals.

So richtig wollen sich die stetigen Vorhersagen einer stark belebten Kunstlandschaft nicht als wahr erweisen. Der Strukturwandel steckt fest, auch wenn sich das, teilweise zugereiste, Kulturbürgertum zumindest jeden Sommer während der Ruhrtriennale in stillgelegten Zechen und renovierten Industriegebäuden mit internationalen Produktionen und postindustriellen Technopartys selbst zu feiern weiß. Die Arbeitslosenquote bleibt dennoch verheerend und die gesellschaftliche Notwendigkeit an Kunst einerseits sekundär und andererseits gerade doch deswegen primär. Manches tut sich bei genauerem Hinschauen dann aber doch und das ist dann häufig sogar richtig gut. Seit Herbst 2017 besticht etwa der neugegründete Neue Essener Kunstverein durch regelmäßige Ausstellungsprojekte mit überwiegend jungen, internationalen Positionen und vermag so wichtiger Knotenpunkt für Vernetzungsstrategien und Austausch zu sein. Bis zum 21. April ist dort Maximiliane Baumgartners Ausstellung „Ich singe nicht für Bilder schöne Lieder“ zu sehen.

Baumgartner, die an der Akademie der bildenden Künste München studiert hat, lebt im angrenzenden, kunstreichen Rheinland und in München, wo sie zusammen mit Jochen Weber den Pavillon „Fahrender Raum“ in Freimann konzipierte: „Ein Kunstprojekt und Aktionsraum für kunstvermittlerisches und künstlerisches Handeln im Städtischen Kontext“ – ein Anliegen, das gerade auch im Ruhrgebiet von gesellschaftlicher Relevanz erscheint. So vermag es Baumgartner in ihrer Essener Ausstellung über auffallende architektonische und verschachtelte Bildformate aus Materialen wie Alu-Dibond szenografische Bühnensituationen zu schaffen. Anhand inhaltlicher Referenzen an rein affirmative, damit machterhaltende und vor allem antiemanzipatorische Inszenierungen wie der gesellschaftlichen Farce eines NSU-Prozesses brechen so vielleicht starre Räume auf – malerisch, sozial, politisch. Eine Art postdemokratische Malerei, die an einem geographischen und lokalpolitischen Ort, der in ewiger Latenz und ausgehöhlter Repräsentationsschleife verharrt, von andauernder ironischer Aktualität ist – ähnlich dem Esel, dem Till Eulenspiegel das Lesen beigebracht haben will und den Baumgartner mit selbstbewusstem Pinselstrich skizziert. Am Eröffnungsabend der jungen Institution treffen sich hier dann auch die, die mit dem, was da ist, versuchen, im Ruhrgebiet etwas zu schaffen.

V.l.n.r.: Phung-Tien Phan, Andrzej Steinbach, Svea Mausolf, Anna Lisa Högler und Jan Kiefer in der Ateliergemeinschaft in der Spichernstraße in Essen, Ausstellungsreihe: Trust Camp, 2018; image copyright and courtesy of the artists and Niklas Taleb.

Eine Gruppe von überregional vernetzten Künstlerinnen und Künstler etwa, die als Studierende der Folkwang Universität der Künste und der Kunstakademie Düsseldorf in der Essener Spichernstraße bis vor kurzem den erfolgreichen Projektraum New Bretagne/Belle Air betrieben. Ab und zu realisiert die Gruppe um die Künstlerin Phung-Tien Phan herum in ihrem Atelierhaus auch weiterhin Gruppenausstellungen, die mit eigenen Arbeiten und künstlerischen Gastpositionen wie Andrzej Steinbach oder Sebastian Burger für einen äußerst produktiven und diskursiven Austausch sorgen. Damit bilden sie zusammen mit dem Neuen Essener Kunstverein auch eine Art Gegengewicht zum Museum Folkwang als einer bildungsbürgerlichen Insel des Ruhrgebiets.

Thomas Seelig, Leiter der fotografischen Sammlung, eröffnete dort im März etwa die Einzelausstellung der estnischen Künstlerin Marge Monko. In ihren Arbeiten verschwimmen eigene, gefundene und angeeignete Fotografien, Filme, Objekte und Displays zu raumgreifenden Installationen. Über Inszenierungen und Rhetoriken der Werbewelt legt sie kapitalistische Begehrensstrukturen offen und verweist auf Bildstrategien der Marketingindustrie.

Marge Monko, Stones Against Diamonds, Diamonds Against Stones, 2018 (Installation in der Vitrine: 5 Steine, iPhone, 3 Fotografien), image copyright and courtesy of the artist Marge Monko.

Sie begegnet diesen mit feministischen Recherchen, indem sie in ihrer aktuellen Werkgruppe Women of the World, Raise Your Right Hand etwa Kampagnen von Diamanthändler*innen auf deren heutige Zielgruppe unabhängiger und selbstbestimmter Frauen hin untersucht oder historische Fotografien aus Fabriken mit Zitaten der Arbeiter*innenbewegung collagiert. Zur Ausstellungseröffnung im NEK kommen Monko und Seelig dann trotz Aufbauwahnsinn vorbei, die Szene ist eher übersichtlich – zugleich Fluch und Segen des Ruhrgebiets. Auch Oriane Durand ist an diesem Abend anwesend. Nach Stationen in der Albrecht Dürer Gesellschaft Nürnberg und dem Bonner Kunstverein leitet sie seit 2015 den Dortmunder Kunstverein, der im Erdgeschoss des Dortmunder U in unmittelbarer Nähe zum Museum Ostwall und dem Hartware MedienKunstVerein (HMKV) angesiedelt ist. Erst am späten Nachmittag desselben Tages hatte ich sie in ihrer Ausstellung Bamboo Bar. At the Edge of the Universum besucht. Kernstück derselben bildete neben malerischen und skulpturalen Arbeiten, die von Lizzie Fitch und Ryan Trecartin, Renaud Jerez, Gijs Milius und Melike Kara stammen und vor allem von hybriden Wesen, vereinsamten Charakteren und verlassenen Schauplätzen menschlichen Zusammenkommens erzählen, eine große barähnliche Installation von Claus Föttinger, Veldt & Ocean (2018).

Claus Föttinger im Dortmunder Kunstverein, image copyright and courtesy of the artist.

Als eine Metapher an einen alternativen Ort gesellschaftlicher Interaktion verweisen unzählige integrierte Bild- oder Materialzitate sowie in die Konstruktion eingebaute Bücher auf die Bar als Aushandlungsraum sozialer Themen. Und so sitzen Oriane und ich bei einem Bier am Tresen und sprechen über die Kulturlandschaft im Ruhrgebiet. Man fühlt sich hier schnell etwas isoliert, erzählt Oriane, und ich muss kurz an die wenigen Freund*innen denken, die sich trotz der räumlichen Nähe zu Düsseldorf, Köln oder Münster seit meinem Umzug von München nach Essen hierher verirrt haben, um zu sehen, wo ich jetzt lebe: Diese Bar am Rande des Universums. Und so passt es auch, dass wir uns nach Baumgartners Eröffnungsabend alle noch im Next Door treffen, der afrikanischen Diasporakneipe um die Ecke vom Neuen Essener Kunstverein: Vertraute Isolation im Ruhrgebiet, während es unter der Oberfläche äußerst produktiv brodelt.

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