Tausche Freiheit gegen Unschuld
Gute Aussichten in den Deichtorhallen

5. Februar 2018 • Text von

Junge deutsche Fotografie wird uns derzeit in den Deichtorhallen präsentiert. Sie ist abstrakt, realistisch, sozialkritisch, ästhetisch, geometrisch, klassisch und extravagant. Die Arbeiten der Gute Aussichten-Nachwuchsfotografen sind abwechslungsreich, ausgefallen und außergewöhnlich – Fotokunst, die man bisher eher aus Hochglanzmagazinen kennt als aus dem Museum.

Anna Simone Wallinger: Sodade, © Anna Simone Wallinger.

GUTE AUSSICHTEN DELUXE – junge deutsche Fotografie nach der Düsseldorfer Schule heisst die laufende Ausstellung zum gleichnamigen Fotowettbewerb, in welcher die 24 Preisträger der Jahre 2004 bis 2015 ihre Arbeiten präsentieren. 2004 von Josephine Raab und Stefan Becht gegründet, treffen sich die Juroren einmal im Jahr, unter ihnen Herlinde Koelbl, Thomas Ruff, Juergen Teller, Thomas Struth, um aus den Abschlussarbeiten der deutschen Hochschulen und Akademien ihre Favoriten auszuwählen. In den Deichtorhallen werden jedoch bewusst die aktuellen Projekte der Preisträger gezeigt, um den Fokus auf ihre Weiterentwicklung zu richten.

Während die Bezugnahme auf die Düsseldorfer Schule zunächst etwas willkürlich erscheint, so ergibt sich bei genauerer Betrachtung eine spannende Gegenüberstellung. In den 70er Jahren sorgten Hilla und Bernd Becher mit ihrer nüchternen und nach Objektivität strebendem Blick für einen radikalen Umbruch in der Fotografie. Mit ihren Aufnahmen von Wassertürmen, Getreidesilos, Hochöfen und Fabrikhallen, Relikte der verschwindenden Industrie in Frankreich, Deutschland und Belgien, forcierten sie ein neues Selbstverständnis der Fotografie, welches sich selbstbewusst dem Dokumentarischen zuwand. Nachdem das Künstlerpaar den Preis der Venedig Biennale 1990 gewonnen hatte, wurde Bernd nach Düsseldorf an die Kunstakademie berufen. Aus der Kaderschmiede Becher gingen einige der erfolgreichsten Fotografen unserer Zeit hervor: Andreas Gursky, Thomas Ruff, Thomas Struth oder Candida Höfer. Sie lehrten eine fotografische Praxis, die nach dem strengen Regelwerk der Objektivität geordnet war und nach den Prinzipien der Perspektive, Symmetrie und des Minimalismus verfuhr. Es wurde auf alles verzichtet, was ein Bild ästhetisch verfälschen und von den eigentlichen Eigenschaften des dargestellten Objekts ablenken könnte. Das Ergebnis zeichnet sich durch eine stringente Linienführung, ein gewisse Distanz, Kälte und Leere aus, welche auf wundersame Weise und durch eben diese Qualitäten ästhetisch wird. Gursky und Ruff setzten sich später mit der digitalen Bearbeitung ihrer Fotografien, ihrer Manipulation, über diese strengen Prinzipien hinweg, blieben der minimalistischen Maxime der Bechers jedoch treu.

Nicolai Rapp: Chicks; Rags; Hopes, © Nicolai Rapp.

Wie der deutsch-französische Kultursender arte unlängst postulierte, hat die Fotografie heute nicht nur an Freiheit gewonnen, sondern auch an Unschuld verloren. Das Bild muss heute nicht mehr perfekt arrangiert und inszeniert sein. Fotografie darf asymmetrisch, verpixelt oder unscharf sein, aus der Bewegung heraus und gegen das Licht. Die fotografischen Grundsätze müssen heute, in Zeiten der digitalen Bilderflut und Social Media, neu verhandelt werden. Frühestens mit dem Aufkommen der digitalen Bearbeitungsprogramme und spätestens seit der Fakenews, müssen wir von der Fotografie als dokumentarisch-objektivem Fakt Abschied nehmen. Eine neue Ära wurde eingeläutet, in der die Fotografie genauso gestalterische Fiktion sein kann wie die Malerei. Doch die jungen Fotografen lassen sich nicht beirren und beschreiten ihre eigenen Wege. Dabei bedienen sie sich zunehmend alternativer Darstellungsformen wie den Bewegtbildern, Sound, Smartphones und Rauminstallationen. Wie so oft bleiben einem manche Positionen dabei eindrücklicher im Gedächtnis als andere: Im nachfolgenden werden sieben Fotografen näher vorgestellt.

Felix Dobbert: Aus der Serie Some Flowers, 2014, Fine Art Print (12-Farb Pigmentdruck), 57×43 cm, kaschiert auf Alu-Dibond, Metallrahmen, Artglas © Felix Dobbert

Mein persönlicher Favorit der Gute Aussichten Deluxe-Ausstellung heißt Nicolai Rapp. Sein Werkkomplex Chicks; Rags; Hopes wurde von seinen Aufenthalten in Ghana, Mosambik und Südafrika inspiriert, wo er abseits vom herkömmlichen Tourismus, den Kontakt zu Einheimischen suchte. In seinen Arbeiten geht es vor allem darum das ambivalente Verhältnis zwischen der westlichen Welt und den Ländern Afrikas zu beleuchten und die individuelle Bewusstwerdung über den eigenen, mit Vorurteilen behafteten Blick auf die afrikanische Realität offenzulegen. Sein Exponat setzt sich aus drei Teilen zusammen: die großformatigen Porträts der „Locals”, die er mit Bleichcreme bearbeitet hat, welche einen milchartigen Schleier über das Gesicht zieht, bis zur vollkommenen Unkenntlichkeit. Diese in Europa hergestellten Cremes sind in diesen Ländern weit verbreitet und bergen ein erhebliches Gesundheitsrisiko. Ebenso wie die Aufnahme der giftigen Rauchschwaden, ausgelöst durch die Verbrennung des Elektroschrotts, welche Rapp auf textilen Untergrund gedruckt, mitten im Ausstellungsraum platziert und durch Ventilatoren in Bewegung versetzt hat. Auf dem Boden liegt eine überdimensionale, aus der Vogelperspektive aufgenommene Ansicht eines Slums.

Rebecca Sampson: Apples for Sale, 2017.

Obwohl in der Kunst die Social-Media Annäherungen oftmals etwas holprig und gewollt scheinen, ist es Rebecca Sampson gelungen einen Dialog zwischen ihren Fotos und den Smartphonevideos herzustellen. Dabei taucht sie ein in das Leben der indonesischen Hausmädchen in Hongkong, die eine virtuelle Parallelexistenz führen. Sie arbeiten meist unter schlechten Bedingungen und werden von den Hongkongnesen wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Sampsons Arbeiten zeigen die offiziellen Bewerbungsfotos der „Maids”, in Arbeitskleidung und mit einem breiten, kompetenten Lächeln in Merkel-Pose. Die Smartphones, die in der Mitte auf einem Sockel angebracht sind, präsentieren die virtuellen Profile dieser Hausmädchen, wie sie sich selbst anzüglich und seltsam frivol in Szene setzten und so einen drastischen Gegensatz zu ihrem professionellen ich darstellen.

Thomas Neumanns Arbeiten sind mit dem bloßen Auge nur schwer als Fotografien zu identifizieren. Mit einer Großbildkamera lichtete er die Serien Mori und Ishi in Japan ab, wobei er die Negative seiner Aufnahmen als Exponate verwendete. Seine Arbeiten sehen so den traditionell japanischen Wandmalereien zum Verwechseln ähnlich. Zum einen liegt das wohl an der Wahl des Motives, dem unendlichen Wald ohne Tier oder Mensch, aus ineinander verschlungenen Bäumen. Zum anderen lässt der schwarz-weiße Farbverlauf den Eindruck einer japanischen Tuschemalerei in fernöstlicher Tradition entstehen. Der in Düsseldorf und Japan lebenden Künstler beschäftigt sich vor allem mit dem Verhältnis von Mensch und Natur, welches seiner Meinung nach stark von dem jeweiligen kulturellen Umfeld beeinflusst wird.

Bei Christina Werner geht es um den Umgang mit kollektiven Erinnerungen und traumatischen Erlebnissen. Reflecting Pools sind verschiedene Aufnahmen des Ground Zero Mahnmals, welche die Fotografin mit einem bläulichen Filter überzieht. Dabei geht es in ihren Arbeiten nicht primär um das Ereignis des 11. September selbst, sondern vielmehr um die Zeit unmittelbar danach und ihre politischen Zerwürfnisse. Der Architekt Daniel Libeskind wurde mit der Gestaltung der Gedenkstätte beauftragt, jedoch mussten hierbei auch die wirtschaftlichen Interessen des Investors berücksichtigt werden. Laut Andrea Gnam eine heikle Gratwanderung zwischen Monumentalität und Rentabilität. Wie soll mit der Erinnerungskultur in Zukunft umgegangen werden? Das dazugehörige Video zeigt einen Hubschrauber, der in ohrenbetäubender Lautstärke über den filterblauen Himmel fliegt.

Nicolai Rapp: Aus der Porträtserie c6h602 – Teil der Werkserie Chicks, Rags, Hopes, 2014 -2016, Fine-Art Print auf Hahnemühle Photo Rag + Bleichcreme, 70×90 cm, freischwebend in Objektrahmen, Unikate © Nicolai Rapp

 

Claudia Christoffels Arbeit FUN, GHB, EAT ist auf eine ganz andere Art und Weise verstörend. Sie fotografiert alltägliche Objekte wie eine Karotte, eine Krawatte oder ein Pfannenheber nüchtern von oben und ordnet sie den drei Kategorien FUN, GHB und EAT zu, wobei ein Gegenstand auch in mehreren Kategorien gleichzeitig vertreten sein darf. Ihrer Überlegung zugrunde liegt die Macht der Kontextualisierung: Ein und derselbe Gegenstand kann in verschiedenen Zusammenhängen vollkommen unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. So werden diese Objekte, laut eingehender Recherche der Fotografin, oft als Sextoys umfunktionalisiert oder als Vergewaltigungsinstrument missbraucht. GHB ist die Abkürzung der chemischen Zusammensetzung, die auch als K.O. Tropfen geläufig sind. In der Kategorie EAT erfahren die Alltagsgegenstände eine Rekontextualisierung und werden wieder ins rechte Licht gerückt.

 

Im Vergleich hierzu präsentiert Felix Dobbert ein thematisch deutlich weniger aufgeladenes Sujet. Der Preisträger von 2004 fotografiert Blumen als Stillleben in unterschiedlichen Verpackungsmaterialien wie Plastikflaschen oder Ähnlichem. Hochgradig ästhetisch, erinnert diese Kompositionen zunächst an die klassische Malerei. Jewgnei Roppel schickt uns auf eine Reise ins russische Atlantis, eine Stadt namens Kietzh, die angeblich auf dem Grund des Svetloyar Sees im nördlichen Sibirien liegen soll. Im 12. Jahrhundert wurde diese Stadt von den Mongolen angegriffen. Seitdem ist dieser Ort von russischen Mythen und Legenden bedacht. Denn nur wer ein reines Gewissen hat, kann den Weg ins sagenumwobene Kitzeh finden. Der Fotograf vermag es diese Magie einzufangen: eine orthodoxe Kirche, die von Unkraut umwuchert ist, ein Kind, das im See badet, der grünliche Sternenhimmel an dem sich eine Aurora andeutet.

WO: Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1, 20095 Hamburg.
WANN: Bis zum 21. Mai kann die Ausstellung besucht werden.

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