Queere Formen migrieren
Zwischen Istanbul und Berlin

9. März 2017 • Text von

Im Schwulen Museum wird unter dem Titel „ğ – das weiche g“ zeitgenössischen Positionen transkultureller und -sexueller Identitäten Sichtbarkeit verliehen und ein Dialog mit der queer-migrantischen Szene der Stadt angeheizt.

ğ ist ein im Türkischen verwendeter Buchstabe, der auf Deutsch als weiches g umschrieben werden kann. ğ ist ein relativ neuer Letter im Alphabet, der im Lateinischen keine Entsprechung findet. ğ ist ein „östlicher Laut, der in eine westliche Form schlüpft“. Er hält lediglich eine Dehnfunktion des vorausgegangenen Vokals inne. Er steht daher nie am Wortanfang und wird grundsätzlich nicht großgeschrieben. Ausgesprochen wird er auch nicht, dank Erdoğan weiß man das mittlerweile auch in Deutschland. Im Schwulen Museum Berlin wird dieser untergeordnete Laut nun aber zum Sinnbild eines queer-migrantischen Gemütszustandes erhoben.

Emre Busse und Aykan Safoğlu, Foto: Francesco Cascavilla

Emre Busse und Aykan Safoğlu, Foto: Francesco Cascavilla

Der Buchstabe ğ verweist metaphorisch auf eine Community von LSBTIQ-Migranten an den Schnittpunkten zwischen der Türkei und Deutschland – konkret: Istanbul und Berlin. Als Titel der Ausstellung entledigt er sich seines sekundären, stummen Charakters und steht für sich allein, wird autonom und selbstbestimmt wahrgenommen. Den ursprünglich aus Istanbul stammenden Kuratoren Emre Busse und Aykan Safoğlu ging es in der Konzeption der Ausstellung nämlich vor allem um eine solche Sichtbarkeit, die beiden wollen nicht aufklären oder mit dem Finger zeigen. Vielmehr möchten sie dem Besucher, jedem Besucher, Fragen aufzeigen, die im Kontext zu Migration und Queerness stehen, und diese gemeinsam reflektieren. In zwölf Kunstwerken unterschiedlicher Medien beschäftigen sich ausgewählte Positionen mit ihrer kulturellen und sexuellen Identität.

Cihangir Gümüştürkmen, Fatma Souad, 1997, Courtesy of Ulaş und Koray Yılmaz-Günay

Cihangir Gümüştürkmen, Fatma Souad, 1997, Courtesy of Ulaş und Koray Yılmaz-Günay

Obwohl sich die KünstlerInnen aufgrund des politischen Klimas in der Türkei besonders im Ausleben ihrer sexuellen Orientierung eingeschränkt sehen, sind die gezeigten Arbeiten auf politischer Ebene überraschend subtil. Die Werke scheinen zunächst vielmehr persönliche Geschichten zu erzählen. Im Porträt der LSBTIQ-Aktivistin und Partyqueen Fatma Souad spiegelt sich eine innige Verbundenheit zu dessen Maler Cihangir Gümüştürkmen, mit dem sie gemeinsam Drag Shows inszeniert. Es erzählt die Geschichte einer Freundschaft und bietet einen Hinweis auf die solidarischen Strukturen innerhalb der queer-migrantischen Community. Auch der Kurator Aykan Safoğlu hat eine besondere Beziehung zu dem Werk: In seiner ersten Nacht in Berlin 2008 habe er es erstmals gesehen und stünde seither in seinem Bann. Für ihn steht es für den kameradschaftlichen Empfang, der ihm von dem Verein „GLADT – Gays & Lesbians aus der Türkei“ bereitet wurde. In dieser Ausstellung feiert das Gemälde seinen zwanzigsten Geburtstag – Man soll sich fragen: Was hat sich seit seiner Entstehung in der Szene getan?

 Mehtap Baydu, Der Kokon, 2015, Video-Performance, Courtesy of the artist.


Mehtap Baydu, Der Kokon, 2015, Video-Performance, Courtesy of the artist

Mehtap Baydu hat in einer 17-tägigen Performance ihre eigene sexuelle Vergangenheit in Form von Hemden verflossener Liebhaber zu einem Kokon verwebt, der sie zum Schluss ganz umhüllen soll. Auf feinfühlige, poetische Art und Weise wirft die Videodokumentation dieser Arbeit die Frage auf, inwiefern erotische oder emotionale Begegnungen unsere Identität formen und eine Metamorphose des Selbst bewirken können.

Nilbar Güreş, Rose of Sapatão, 2015, Courtesy of the Artist, RAMPA Istanbul, and Martin Janda, Foto: CHROMA Istanbul

Nilbar Güreş, Rose of Sapatão, 2015, Courtesy of the Artist, RAMPA Istanbul, and Martin Janda, Foto: CHROMA Istanbul

Die skulpturale Installation „Rose of Sapatão“ von Nilbar Güreş verbindet lesbische Erotik mit der Infragestellung heteronormativer Werte. Aus einem großen Schuh, der in der Türkei als Typ Zuhälter bekannt ist und im portugiesischen Wort Sapatão auf maskulin wirkende Lesben anspielt, wächst eine zarte Rose, die sich wollüstig an einem Keramikdildo vergeht. Die erotische Szene spielt sich auf einer gehäkelten Tischdecke ab, welche auf verspießte Domestizität verweist. In diesem Kontrast kann man ein Aufbegehren gegen häusliche Normen vermuten, in denen queere Sexualität noch keinen Ausdruck finden kann.

 Taner Ceylan,  Taner und Taner, 2003, Courtesy of Bert-Jan van Egteren


Taner Ceylan, Taner und Taner, 2003, Courtesy of Bert-Jan van Egteren

Direktere Provokation liefert der Maler Taner Ceylan. In seiner queeren Interpretation des Selbstporträts „Taner und Taner“ fickt er sich selbst von hinten. Es erweitert das Thema Künstlerpersönlichkeit inmitten von Selbstliebe und -hass um eine entscheidende Dimension. Und hier wird es dann doch politisch: Das Werk sollte Taner nicht nur berühmt machen, sondern auch einen Skandal auslösen. Seit Jahren werden seine Arbeiten in Veröffentlichungen zensiert, Ausstellungen gar abgesagt. Und so migrierte das queere Werk in das freie Berlin, dahin wo alles möglich scheint, wo nichts mehr schockt.

Und es stimmt: In Berlin sind die Themen der türkischen Migration so präsent wie kaum woanders, und auch die LSBTIQ-Szene ist hier aktiver denn je, und in die populäre Kultur und Identität der Stadt regelrecht eingeschrieben. Nur in Verbindung läuft man diesen zwei Komponenten der Hauptstadt selten über den Weg. Dem wurde hier in feinfühliger, „weicher“ Manier Abhilfe geschaffen. Türen wurden geöffnet, Zugänge geschaffen, und ein Fundament für intensiven Austausch gelegt. 

WANN: Die Ausstellung läuft bis zum 29. Mai. Ein umfangreiches Rahmenprogramm zugunsten des transkulturellen Austausches gibt es auch, welches ihr hier abrufen könnt.
WO: Schwules Museum*, Lützowstraße 73, 10785 Berlin.

Weitere Artikel aus Berlin