Lidl lohnt sich
Die Illusion des privaten Raumes

1. Juli 2019 • Text von

Wie intim ist das Private und wie öffentlich das Intime? Die im Auftrag der Kontakt Sammlung und in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien entstandene Ausstellung „Collective Exhibition for a Single Body – The Private Score“ changiert nicht nur räumlich zwischen Privatem und Öffentlichem.

© Oliver Ottenschläger

Die einst von der Generali Foundation eingezogene Betonwand trennt heute Getränke von Süßwaren und Nudeln. Die nüchterne Architektur der Räume, in denen der Versicherungskonzern Generali bis 2014 seine Sammlung zeitgenössischer Kunst zeigte, behauptet sich weiterhin vor den vollgestopften Regalen des Lidl Discounters. Vor dem Käseregal entdecke ich einen Mann mittleren Alters, der sich in vorsichtig tastenden Schritten Richtung Süßwaren bewegt. Niemand und nichts weist darauf hin, dass hier eine Performance stattfindet. In der Obst- und Gemüseabteilung deutet er aufrecht stehend mit einem Zeigefinger nach oben, mit dem anderen nach unten und wiederholt die Geste in der Käseabteilung. Gerade als ich ihn aus den Augen verloren glaubte, entdecke ich ihn hinter einem Regal kauernd. Lauert er jemandem auf, versteckt er sich? Spätestens als er sich vor der Kasse flach auf den Boden legt und langsam eine Münze nach der anderen auf sein Gesicht legt, verbreitet sich Irritation unter den Lidl-Kunden. Für einen kurzen schockhaften Moment scheint ihre alltägliche Einkaufsroutine unterbrochen und der Ort, an dem nun aufdringliche Werbung und buntes Design aggressiv um Aufmerksamkeit buhlen, erinnert an die Zeit, als in der Generali Foundation krachend große Keramik-Tiger (eine Arbeit von Marcello Maloberti, die als Video-Aufzeichnung auch im Haus Wittgenstein zu sehen ist) zertrümmert wurden. Aber gleichzeitig wird mein Blick abgelenkt von grell-orangenen Preisschildern: die Flasche Aperol für 8,99 statt für 12,49. In mir regt sich die Konsumentin.

Der rumänische Choreograf Manuel Pelmuș hat gemeinsam mit dem Kurator Pierre Bal-Blanc vor allem aus Werken der Kontakt Sammlung eine Reihe von Gesten ausgewählt, die jetzt im laufenden Betrieb des Lidl Supermarktes abwechselnd von Jack Hauser, Hayder Wahab und Elizabeth Ward aktiviert und im Haus Wittgenstein, dem heutigen bulgarischen Kulturinstitut, ausgestellt werden. Dort finden wir im früheren privaten Esszimmer Fotografien, Skizzen und Videos ausgebreitet, die hauptsächlich aus Ländern des ehemaligen Ostblocks der 1960/70er Jahre stammen,  und erkennen sofort, was wir im Lidl Markt beobachtet hatten: „Ich gehe vorsichtig, sehr vorsichtig wie auf dünnem Eis, das jederzeit einbrechen könnte.“ (Jiří Kovanda) oder „Subjektiv-objective kulturelle Situation (U.F.O.)“ (Július Koller). 

Július Koller, Subjective-Objective Cultural Situation (U.F.O.), 2004–2007, Courtesy: The Július Koller Society.

Pierre Bal-Blanc hat die Ausstellung, die im Auftrag der Kontakt-Sammlung und in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien entstand, in zwei Teile gegliedert: Die im Esszimmer präsentierten Scores bilden die Vorlage für die im Lidl-Supermarkt aufgeführten Performances. Die „Etüde“ genannte Fortsetzung, die sich über die anderen Räume des Haus Wittgensteins verteilt, kontextualisiert die performativen Gesten und erweitert sie mit Arbeiten unter anderem von Anna Daučíková, Mladen Stilinović, Nedko Solakov oder Sarah Lucas. Das Ausstellungskonzept „Collective Exhibition for a Single Body“ war ursprünglich für die documenta 14 (2017) in Athen und Kassel entwickelt worden. Dort wurden die Performances umgeben von antiken Skulpturen im Archäologischen Museum Piräus aufgeführt. Während sich also in Athen die Performer*innen im künstlerischen Safe-Space des Museums und vor Eintritt zahlendem Kunstpublikum bewegten, sind sie in Wien umgeben von Suppendosen, Waschmittelverpackungen und Einkaufswagen schiebenden Kunden – und dem Unplanbaren dieses Ortes ausgesetzt. 

Der „Private Score“, so der Untertitel für die Wiener Ausstellung, verweist nicht nur auf die intimen, aber politisch extrem aufgeladenen Gesten der osteuropäischen Aktionskunst der 1960/70er Jahre, die sich im Unterschied zu den ganz ähnlichen Kunststrategien im kapitalistischen Westen eher im Privaten verbargen, um nicht identifizierbar und vor staatlicher Zensur geschützt zu sein. Er verweist ebenso auf das dem Sozialismus immanente Machtverhältnis von Kollektiv und Individuum, in dem das Private deshalb politisch ist, weil Politik den Bereich des Privaten bestimmt. Gleich im Eingangsbereich des Haus Wittgenstein hängt deshalb Mladen Stilinovićs „Tijelo (Body)“ aus dem Jahr 1977, das genau diese Diskrepanz zwischen Anonymität und Identität thematisiert. Die Serie von schwarz-weiß Fotos verweist auf die Fragmentierung eines männlichen Körpers und die unzureichende Maskierung dieser zerstückelten Körperteile. Bleibt das Individuelle erkennbar, wenn der Körper sich hinter der Maske der Anonymität verbirgt? Gibt es überhaupt eine Grenze zwischen dem privaten, das heißt individuellen, und dem gesellschaftlich normierten Körper? Und was bedeutet das übertragen auf unsere heutige neoliberale Gesellschaft?

© Oliver Ottenschläger

Das Changieren zwischen Privat und Öffentlich oder zwischen Abweichung und Norm wird schließlich durch das von Jakob Lena Knebl ausgewählte Mobiliar im Haus Wittgenstein weiter intensiviert. Die schrill extrovertierten Möbel aus den 1970er Jahren konterkarieren die puristische Architektur des Hauses. Der ursprünglichen Raumaufteilung folgend steht im ehemaligen Schlafzimmer der Schwester Wittgensteins ein mit Fächern und eingebauten Aschenbechern ausgestattetes Doppelbett. Auf dem Bett liegend fällt der Blick auf Mladen Stilinovićs Fotoreihe „Conversation with Freud – the Artist as his own Complex“. Es zeigt Stilinović selbst und seine Doppelgänger: Ich, Es und Über-Ich rauchen, schlafen, arbeiten und ficken. Die private Entblößung erhält öffentlich vielleicht Relevanz.

WANN: „Collective Exhibition for a Single Body – The Private Score – Vienna 2019“ war leider nur viel zu kurz, nämlich 10 Tage vom 19. bis 28. Juni 2019 zu sehen.
WO: Haus Wittgenstein, Parkgasse 18, 1030 Wien und Lidl, Wiedner Hauptstraße 15, 1040 Wien.

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