Den Finger in die Wunde
"Selbst und Zweck" im ICAT der HFBK Hamburg

11. Januar 2023 • Text von

Politisch und pointiert verhandelt die Gruppenausstellung „Selbst und Zweck“ sowohl aktuelle Ereignisse der Geschichtsschreibung als auch historische Momente des Umbruchs. Das ICAT im Atelier-Haus der HFBK Hamburg versammelt sechs persönliche Perspektiven künstlerisch-forschender Positionen, die unbequeme Wahrheiten offenlegen.

Selbst und Zweck, Installationsansicht, ICAT im Atelier-Haus der HFBK Hamburg, 2022. Foto: Tim Albrecht.

Welche Rolle spielt die Vergangenheit in der Gegenwart? Für die Gruppenausstellung „Selbst und Zweck“ führte die Kuratorin Sjusanna Eremjan sechs künstlerische Positionen bestehend aus Studierenden und Absolvent*innen der HFBK Hamburg zusammen. In ihren Werken befassen sich Anne Meerpohl, Katja Pilipenko, Merlin Reichart, Ngozi Schommers, Sung Tieu und Leyla Yenirce mit historischen und gegenwärtigen Umbruchphasen. In Installationen, Skulpturen und Malereien zeigen sie, auf welche Weise gesellschaftliche und politische Prozesse wie Arbeitsmigration, Feminismus und Kolonialismus bis ins Heute wirken.

Um diese Themen zu bearbeiten, greifen die Künstler*innen auch auf Material aus ihrer eigenen Biographie zurück. Die Perspektiven, die in der Gruppenausstellung aufeinandertreffen, sind vielfältig. Sie vereint eine kritisch-sensible Auseinandersetzung und ein Drängen nach Sichtbarmachung unbequemer Wahrheiten der Geschichtsschreibung.

Katja Pilipenko, In Search of Lost Security, 2022, 6 Aluminiumplatten, UV-Druck je 170 x 100 cm. Courtesy: Künstlerin. Foto: Tim Albrecht.

Ein Kernthema in der künstlerischen Praxis der HFBK-Master-Absolventin Katja Pilipenko ist die mediale Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache. Für ihr Werk „In Search of Lost Security“ befasste sich die in Moskau geborene Künstlerin mit der Invasion der russischen Truppen in die Ukraine im Februar 2022. Auf sechs großformatigen Aluminiumplatten dokumentiert Pilipenko die mediale Berichterstattung des russischen Fernsehkanals “Channel One Russia”, sowie der deutschen “Tagesschau”. In den dort zu lesenden Texten beschreibt sie nüchtern-informativ, was in den jeweiligen Nachrichtensendungen zu sehen ist und transkribiert dort getroffene Aussagen von Politiker*innen.

Die reduzierte Formsprache der Arbeit schafft die Möglichkeit eines vergleichend-analytischen Blicks auf russische und deutsche Berichterstattung. Durch eigene Beobachtungen können Betrachter*innen selbst Rückschlüsse auf die Mechanismen gegenwärtiger prorussischer Kriegspropaganda ziehen.

Ngozi Schommers, Akwete x Catalogue I, 2019 – 2022, Wolle, Glasfaser, synthetisches Haar, Netz, Aluminiumdraht, Maße variabel. Courtesy: Künstlerin. Foto: Tim Albrecht.

Die nigerianisch-deutsche Künstlerin Ngozi Schommers befasst sich in ihrer Arbeit mit Erinnerungskultur, Migration und den Folgen des Kolonialismus. Die weichen Skulpturen der Mixed-Media-Installation „Akwete x Catalogue I“ erinnern an Frisuren: Die organisch-wirkenden Objekte sind überspannt mit einem feinen Netz aus schwarzem Faden, an welchem kontrastierende Flechtzöpfe aus unterschiedlichen Techniken angebracht sind.

Die individuellen Frisuren der einzelnen Skulpturen basieren auf der Auseinandersetzung der Künstlerin mit vorkolonialen Igbo-Frisuren. Gemeinsam mit lokalen Friseur*innen stellte sie die Skulpturen her und ließ sich dafür von Fotografien aus dem privaten Archiv ihrer Familie sowie Erinnerungen aus ihrer Kindheit inspirieren. Die Installation kann als Visualisierung der gemeinschaftlichen Fürsorge gesehen werden, welche sich in der Praxis des Haarherstellens in Nigeria manifestiert. Mit ihrer Installation würdigt Schommers die unsichtbaren Hände vieler unterdrückter Generationen, die den Skulpturen innewohnen. Sie drängt außerdem darauf, die Geschichte der herrschenden Politik auf Schwarze Körper sichtbar zu machen.

Ngozi Schommers, safe space, 2022, 10 pulverbeschichtete Metalltafeln je 40×180 cm. Courtesy: Künstlerin. Foto: Tim Albrecht.

Neben „Akwete x Catalogue I“ zeigt Schommers außerdem „safe space“, eine Skulptur bestehend aus zehn pulverbeschichteten Metalltafeln, die zentral im Raum platziert ist. Das Muster ist angelehnt an europäische Architektur der Kolonialzeit in Westafrika, wo es Anwendung in Höfen, Veranden und Fensterrahmen fand. Mit der Arbeit reflektiert Schommers den deutschen Machtanspruch in der Region. Sie kann als Aufforderung gesehen werden, die vielen blinden Flecken in der Aufarbeitung der europäischen und deutschen Geschichte sichtbar zu machen.

Merlin Reichart, Triptych, 2019, Natodraht, Ladekabel, Raspberry Pis, Spionkamera, LCD, UV-Druck auf Aluminiumblech auf Stahlrahmen. Courtesy: Galerie Conradi. Foto: Tim Albrecht.

„Triptych“ ist ein dreiteiliges multimediales Wandobjekt aus recyceltem Aluminiumblech des in München geborenen HFBK-Master-Absolventen Merlin Reichart. An der oberen Kante des linken Flügels ist ein Stück Natodraht angebracht – an der unteren diverse funktionierende Handyladekabel. Im Zentrum des Werks prangt plakativ ein Zwinker-Emoji. Das dritte Panel ist mit einem Bildschirm versehen, welcher sich hinter einem grob herausgesägten Loch befindet. Die auf dem Screen zu sehende Videoaufnahme offenbart die Tatsache, dass die Besucher*innen der Ausstellung von einer Kamera innerhalb der Installation gefilmt werden.

In der Ästhetik des Werks verschmilzt Internetkultur mit futuristischer Techno-Dystopie. „Triptych“ nimmt hier Bezug zur alltäglichen Überwachungskultur in der digitalen Moderne. Die Arbeit erschafft ein zynisches Gegennarrativ zur Vision des Cyberspace als demokratischer Raum, der alle Menschen gleichermaßen teilhaben lässt und deren Bedürfnisse wahrnimmt und schützt.

Sung Tieu, Date, Flight Number, Ministry, Factory, Workers Target, Workers Actual (Multiboy Edition), 2021, Stempel auf Digitaldruck, gerahmt je 32,1 x 23,4 cm. Courtesy: Künstlerin. Foto: Tim Albrecht.

Die deutsch-vietnamesische Künstlerin Sung Tieu ist Kind eines ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiters. Sie zeigt in Stahl gefasste, akribisch anmutende Aktenblätter, welche einen flüchtigen Einblick in die Arbeits- und Lebensumstände der damaligen Vertragsarbeitenden geben. Die Dokumente der Serie enthalten unter anderem Ausschnitte aus den zweisprachig verfassten Arbeitsverträgen und dokumentieren die Anreise der vietnamesischen Gastarbeiter*innen im Jahr 1989 in Ostdeutschland.

In ihrer künstlerischen Forschung beschäftigt sich Tieu mit dem Anwerbeabkommen, das die DDR 1980 mit der Sozialistischen Republik Vietnam schloss. Der Arbeit „Date, Flight Number, Ministry, Factory, Workers Target, Workers Actual (Multiboy Edition)“ liegt eine Recherche zugrunde, in der die Künstlerin Archivmaterial sammelte und dieses aufbereitete.

Sung Tieu, Offerings, 2021 Rum von VEB Weinbrand Wilthen, Kerzen von VEB Wittol Wittenberg, Keramikteller von VEB Henneberg-Porzellan Ilmenau, Tamponverpackung von VEB Vliestextilien Lößnitztal, Kondome von VEB Plastina Erfurt, Edelstahl, mit gerahmtem Werkvertrag, Stempel auf Digitaldruck, 40 x 40 x 40 cm, Werkvertrag, je 32,1 x 23,4 cm. Courtesy: Privatsammlung. Foto: Tim Albrecht. // Sung Tieu, Mum’s Work, 2021, Arbeitsjacke, Marienkäfer, Schuhe von VEB Schuhfabrik Banner des Friedens, Edelstahlständer poliert, 3 gerahmte (Edelstahl poliert) Dokumente Maße variabel, Dokumente je 32,1 x 23,4 cm. Courtesy: Stiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. Foto: Tim Albrecht.

Begleitet wird die Arbeit von sorgfältig platzierten, altarhaften Ansammlungen von Gegenständen – angelehnt an den Ahnenkult in der vietnamesischen Kultur. Die verwendeten Alltagsprodukte wie Jacken, Schuhe, Kondome und Tamponverpackungen wurden von den Arbeiter*innen in den sogenannten volkseigenen Betrieben hergestellt.

Die Produkte stehen stellvertretend für die Umstände, unter denen diese hergestellt wurden: So war die Integration nicht erwünscht, ein Familiennachzug sogar unmöglich. Im Falle einer Schwangerschaft drohte außerdem eine umgehende Ausweisung. Tieus Werke geben Einblicke in die kollektive Geschichte der vietnamesischen Gastarbeiter*innen. Die Künstlerin würdigt ihre individuellen Biographien und bietet außerdem die Möglichkeit, angedeuteten Schicksalen nachzuspüren.

Anne Meerpohl, Passetout, 2022 Holz und Öl auf Leinwand, 26 x 26 cm, 47 x 30 cm, 75 x 42 cm, 63 x 62 cm, 120 x 160 cm. Courtesy: Künstlerin. Foto: Tim Albrecht.

Körperlich, fließend und eigenwillig – so präsentiert sich Anne Meerpohls Malerei in den Räumlichkeiten des ICAT. Die organisch wirkende Formsprache, der Einsatz von an Haut und Fleisch orientierter Farbgebung, sowie die Form der Leinwände selbst erinnern an Körperteile wie Zunge oder Gaumenzäpfchen. Die Perspektive, die sich hier in ablehnender Symbolik offenbart – „die Zunge heraus strecken“ – steht in inhaltlicher Verbindung zum Thema des Widerstands.

In einem kollektiven Moment der Auflehnung scheinen sich die Malereien von Anne Meerpohl in aufrührerischer Absicht spontan zusammenschließen zu wollen. Durch ihre einander zugewandte und gruppierte Platzierung entsteht außerdem eine dialogische Qualität im Raum. Für „Passetout“ ließ sich die in Hamburg lebende Künstlerin vom sogenannten Tomatenwurf inspirieren, welcher im Jahr 1968 während der Konferenz eines Studentenbundes stattfand. Als Zeichen des weiblichen Protests warf dort eine Sprecherin Tomaten in Richtung eines männlichen Delegierten und löste somit eine neue Welle des Frauenprotests in der damaligen BRD aus.

Leyla Yenirce, Bêrîtan, 2022, Sound-Installation mit Postkarte, Länge: 7,22 Minuten. Courtesy: Künstlerin. Foto: Tim Albrecht.

Als synthetisch-atmosphärischer, dröhnender Klangteppich hallt Leyla Yenirces Soundinstallation „Bêrîtan“ durch den Raum. Unterbrochen wird der durchgängige Sound punktuell von hellen, verzerrten Vocals. Die Stimmen in der Soundinstallation der yesidisch-kurdischen Künstlerin scheinen nach jemandem oder etwas zu rufen. Yenirce erschafft hier einen dramatisch-plastischen, auditiven Nachruf einer Widerstandsikone: Bêrîtan war der Kampfname der PKK-Kämpferin Gülnaz Karataş, die sich Gerüchten zufolge 1992 von einer Klippe stürzte, um einer Gefangenschaft zu entgehen.

Zusätzlich zum Sound zeigt eine an der Wand angebrachte Postkarte eine Abbildung der felsenreichen Küstenregion Cornwalls in England. Im sehnsuchtsvollen Motiv spiegelt sich die Vision der Schaffung eines unabhängigen kurdischen Staates, welche bis ins Zeitalter des osmanischen Reichs zurückreicht und bis zur Gegenwart besteht.

Selbst und Zweck, Installationsansicht, ICAT im Atelier-Haus der HFBK Hamburg, 2022. Foto: Tim Albrecht.

Verdrängen, verbergen, verschweigen – der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird zuweilen absichtlich keine Beachtung geschenkt. Sei es die deutsche Kolonialgeschichte, die Geschichte der Unterdrückung der Frau oder die Ausbeutung von Arbeitskraft. “Selbst und Zweck” arbeitet gegen das Vergessen und legt den Finger in die Wunde. Die Ausstellung versammelt kritische Positionen zu historischen Ereignissen und Geschichten von generationenübergreifendem Ausmaß. Sie gibt stellenweise sehr persönliche Einblicke in Erzählungen zur Staatsgeschichte und Staatenlosigkeit, von kolonialer Unterdrückung und Diaspora. Mit ihren Werken leisten die Künstler*innen einen kritischen und persönlichen Beitrag zur Erinnerungskultur. Sie appellieren an die Verantwortung in der Gegenwart, die sich aus der Vergangenheit ableitet.

Einige der Arbeiten offenbaren auch eine heilsame Qualität, indem sie den Nachkommen der Diaspora einen künstlerischen Tribut zollen. In ihren Werken behandeln die Künstler*innen die psychologischen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen durch Formen der Unterdrückung und bieten Ansätze zur Aufarbeitung dieser Traumata durch Momente kollektiven Widerstands und Fürsorge.

WANN: Die Ausstellung “Selbst und Zweck” läuft bis Sonntag, den 22. Januar.
WO: ICAT im Atelier-Haus der HFBK Hamburg, Lerchenfeld 2a, 22081 Hamburg.

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