Fährten legen
Jovana Reisinger und Linda Sakallah über den Film „Pretty Girls Don’t Lie“

14. Februar 2019 • Text von

Lindas Odyssee führt sie über Misswahlen und bespritzte Geschenkkörbe, nach Bad Füssing ins Model Retreat. Leere, Wahn und Selbstbestimmung – eine wahre Achterbahn der Gefühle.

Jovana Reisinger, Pretty Girls Don’t Lie, 2017, Filmstill. Courtesy the artist.

Auf dem Tisch liegt Nina Powers „Eindimensionale Frau“. Das gleiche Buch ist auch in meinem Koffer mit mir nach München geflogen, wo ich die Autorin und Filmemacherin Jovana Reisinger zusammen mit Linda Sakallah, der Hauptdarstellerin ihres Films „Pretty Girls Don’t Lie“ treffe. Der Film hat 2018 den Starter Filmpreis gewonnen und läuft nun am Abschlussabend der „Woche der Kritik“ in Berlin, parallel zur Berlinale.

gallerytalk.net: Linda spielt Linda. Ihr seid Namensvetterinnen. Wie kam es zu dieser Figur? Habt Ihr die Figur zusammen entwickelt?
Jovana Reisinger: Nein, ursprünglich nicht. Linda als Person taucht bereits in dem Film davor auf, in „Pretty Boyz Don’t Die“. Sie rennt auf die Kamera zu, trägt High Heels und Abendkleid, Pelzmantel und Handtasche. Der Sprecher macht uns darauf aufmerksam, dass „wir völlig vergessen haben, dass [parallel zur Filmhandlung]auch noch andere Katastrophen passieren“. Wir sehen Lindas Tasche im Detail, sie hat die Form eines Dackels. Und eben die soll ihr geklaut werden. Linda hat danach noch eine eigene Szene, in der sie einer ebenso aufreizenden Frau ein Glas Prosecco ins Gesicht schüttet. In dem Moment haben wir die Figur der Linda erfunden und beschlossen, dass Linda einen eigenen Film braucht.
Linda Sakallah (lacht): … hast Du beschlossen. Und irgendwie hat es keiner von uns wieder vergessen. Wir haben weiter über Dinge gesprochen, die uns passiert sind. Zum Teil auch ganz banale, alltägliche Dinge. Und von denen hast Du dann relativ viel aufgesogen. Zum Beispiel habe ich Geschichten aus meiner Zeit vom Kellnern erzählt. Da gab es Momente, in denen Männer auf mich zukamen, die anfangs ganz flirty waren, und dann, sobald mein Migrationshintergrund zur Sprache kam, aggressiv gegen mich reagierten.
JR: Und solche Erfahrungen haben wir immer wieder gemacht, also so angemacht zu werden. Gerade beim Ausgehen. Das war 2016/17, als wir auch an der Idee zum Film arbeiteten. Diese wiederkehrenden Übergriffigkeiten waren ein ganz großer Nährboden für den Film.

Und diese Übergriffigkeiten verbindet ihr konkret mit Lindas Migrationshintergrund?
JR: Naja, nein. Eher kam das Thema auf, wenn wir nicht angesprungen und auf den Flirt eingegangen sind. Dann hieß es, „Ja und Du bist ja eh nicht aus Deutschland.“ Und dann gab es bei Linda die Situation mit dem Klempner. Das war dann eine Initialzündung.
LS: Ich hatte einen Wasserschaden zuhause. Also kam ein Klempner, ein echter Ur-Bayer, der gar kein Hochdeutsch gesprochen hat. Ich hatte zugegebenermaßen Schwierigkeiten ihn zu verstehen. Irgendwann sprach er mich dann auf meinen Nachnamen an, den er auf der Klingel gesehen hat und, dass das ja gar kein deutscher Name sei. Und dann fragt er mich doch vollen Ernstes, „San Sie eigentlich auch so eine von den Flüchtlingen?“ Ich war erst mal sprachlos und hab dann entgegnet, dass mein Hochdeutsch wohl besser sei als seines. Er hat mir gar nicht zugehört und weiter gefragt, „Syrien?“ Und ich so, „Nee, ich bin Deutsche.“ Das habe ich Jovana dann erzählt. Und eine Mischung beider Erlebnisse, die der Kellnerin und mit dem Klempner, haben ihren Weg in den Film gefunden.

Wie lernt der Zuschauer die Figur der Linda kennen?
JV: Der Anfang macht zwei Dinge ganz klar. Erstens, wir haben es mit einer Welt zu tun, in der Frauen Luxushandtaschen tragen und dafür überfallen werden und, zweitens, wir haben es mit einer Hauptdarstellerin zu tun (auch, wenn wir das zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen), die in einer Bar arbeitet und nur von Chauvis umgeben ist. Am Anfang hat man also ein ganz klares Feindbild: Der übergriffige, chauvinistische Mann. Und damit wird ja Linda selbst zum ganz krassen Chauvi. In dieser Szene konnte ich alles reinschreiben, was wir erlebt hatten. Zu dem Zeitpunkt konnte man dann auch schon drüber lachen.

Eure Katharsis sozusagen?
JR:
Ja, genau.

Jovana Reisinger, Pretty Girls Don’t Lie, 2017, Filmstill. Courtesy the artist.

„Pretty Girls Don’t Lie“ ist Teil einer Quadrologie? Wie ist die Reihe entstanden?
JR:
Die Filme waren nicht als Reihe angelegt. Der erste Film entstand aus meinem Unverständnis gegenüber einer für Filmhochschulen typischen Politik: Die Regiestudenten bekommen Geld, die anderen nicht, weil sie nicht aus der produzierenden Ecke kommen. Daher kam also der Antrieb und ich wusste, dass ich produzieren muss und nur so herausfinden kann, ob ich nicht doch Regie machen möchte. „Pretty Boyz Don’t Die“ ist wahnsinnig schnell entstanden. Zwei Wochen Drehbuch, zwei Nächte Dreh, vier Tage Schnitt. Und dann haben wir auch schon präsentiert. Während des Münchner Filmfests haben wir den Film an die HFF projiziert. Die Securities vom Filmfest haben uns dann abgesperrt, damit sich das Filmfest auch ja klar distanzieren kann (lacht). Dann lief der Film im Kunstverein bei den Jahresgaben, dann bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen. Aber schon dazwischen war klar, bei dem Titel brauchen wir auch ein „Pretty Girls Don’t Lie“, ein „Mad Girls Don’t Cry“ und schließlich „Sad Boyz Get High“. Es gab noch mehr Titel – die haben wir aber zum Glück vergessen. In Oberhausen hat der Film dann den Zonta-Preis gewonnen. Damit hatte ich dann auch eine gute Verhandlungsgrundlage der HFF gegenüber. Es war ja ein unabhängiges Projekt. Und so konnten wir dann Gelder generieren und die anderen Filme drehen.

Um was genau geht es bei „Pretty Girls Don’t Lie“, dem Film der jetzt auf der „Woche der Kritik“ in Berlin zu sehen ist?
JR:
Der Film betont, dass es eben nicht nur einen Feminismus gibt, sondern ganz unterschiedliche Formen. Nina Power beschreibt das auch so gut in ihrem Buch. Wenn Du und ich beide sagen, wir sind Feministinnen, dann können wir uns gar nicht sicher sein, dass wir dieselbe Art von Feminismus meinen. Der Filmidee ist in einer Zeit gereift, als es sehr stark um popfeministische Diskurse ging. H&M,Mango, Zara, alle haben sie Feminismus-Shirts in die Schaufenster gehängt. Teenager sind damit rumgelaufen. Die ewige Debatte, ob das jetzt die richtige Message ist oder nicht, ob sie vom richtigen Sender kommt. Wir haben es geliebt!
LS: Auch die Frage der Zielgruppe. Die entsprach dann auch gar nicht mehr den Personen, die sich damit identifiziert haben.
JR: Mode, Körper – das waren alles Themen, die in „Pretty Girls Don’t Lie“ eingeflossen sind. Daraus ergeben sich auch die Drehorte: Spa, Fitnessraum, ein nobles Hotel. Leider mussten wir dann alles dem Budget anpassen. Bad Füssing statt Bad Gastein. Das hat dem Film aber ganz gut getan, weil er dadurch eine komische Form von Mittelständigkeit zeigt, aus der wir ja schließlich auch selber kommen.

Jovana Reisinger, Pretty Girls Don’t Lie, 2017, Filmstill. Courtesy the artist.

Welche Rolle spielt Ästhetik? Sowohl Mode wie auch Orte haben ja einen ganz bestimmten Look, die dann auf sehr viel subtilerer Ebene Fragen der Identifikation und Geschlechterrollen reflektieren.
LS: Mode spielt auf jeden Fall eine wichtige Rolle. Lindas Look ist super sexy. Wir haben das Styling zusammen gemacht und dabei dann auch mit Klischees gespielt. Linda ist modisch eine totale Tussi, die immer ein bisschen zu viel zeigt und mit ihren Reizen spielt. Es ist eine sehr überzeichnete, sehr klischeehafte, aber eben auch ästhetisch anmutende Figur. Sie ist schön.
JR: Es musste alles ultra cheap sein. Ja zu Versace, aber aus der H&M Kollektion. Das ist zwar subtil, die Leute wissen es oder eben nicht. Durch die Popularität dieser Kollektionen, und das ‚Edle’, das zum Mainstream wird, realisieren es eben doch total Viele.

Welche Rolle spielt dabei nun wieder der Körper, der im Film ja auch immer inszeniert bleibt?
In der Fitnessraumszene trägt Model Max ein rosafarbenes H&M T-Shirt aus der Divided Kollektion, darauf steht Feminist und das ‚i’ ist eine Rose. Es ist super, dass es ein Mann trägt. Er ist ja auch wirklich Model und steht für die Modewelt. Dieser Körper trägt ja den ganzen Diskurs über die Unterdrückung der Körper. Das bringt er alles schon mit. Und dann trägt er dieses T-Shirt. Dazu, haben wir als Zuschauer von dem Mann gar keine Ahnung. Wir kennen ihn nur als Ziel von Lindas Begierden und Glorifikationen.

Diese Glorifikation geht so weit, dass Linda in dieser Szene sogar an ihm riecht.
JR:
Ja! Max trainiert in seinem fürchterlichen T-Shirt. Und anstelle der aufgeklärten, coolen Frau, die man sich für’s Kino wünscht, kommt Linda herein und bewundert seine Ausdauer. Und riecht an diesem ekligen Typ! Das habe ich von Anfang an ins Drehbuch geschrieben (lacht). Meine totale Lust am Körper.
LS: Max ist eine totale Projektion. Es geht letztlich gar nicht um ihn, sondern nur um den Schein. Und meine Figur steigert sich abnorm in diese Glitter- und Glamourwelt. Das ist Lindas ganzer Mikrokosmos, ein Universum aus sexy Kleidern und Schuhen, leeren Abendveranstaltungen.

Das hat ja auch etwas sehr Tragisches.
LS: Natürlich. Für Linda ist es eine Fantasiewelt. Noch dazu kommt, dass Max ein offensichtlich schwules Männermodel ist. Aber all das spielt keine Rolle. Im Endeffekt bleibt alles eine Projektion.
JR: Was bleibt, ist auch die Sehnsucht, von einem Mann erlöst zu werden. Eine fürchterliche Vorstellung!

Gibt es zwischen der Figur der Linda und der namenlosen Frauenfigur aus deinem Roman „Stillhalten“, die ja auch immer auf ihren Mann wartet, Ähnlichkeiten?
JR: Eigentlich ist es eine andere Frauenfigur. Im Roman, dreht sie sukzessive durch und beginnt gegen ihre Umwelt zu rebellieren. Und die Frauenfigur im Film …
LS: … dreht auch in gewisser Weise durch.
JR: Ja, aber diese Figur macht eine Entwicklung durch und hat am Schluss einen Moment des Empowerment. Kurv bevor Linda umgebracht wird, merkt sie, dass sie die Männer eigentlich gar nicht braucht. Und sie stirbt als Braut! Und Linda stirbt unglaublich elegant und sehr überzeugend! (Lacht)

Aber Lindas Prozess geht ja weiter…
JR: Ja, sie steht wieder auf. Und die Linda, die zu Beginn hohl in Zeitschriften blättert und Männermodels stalkt, wird selbst zur Mörderin.

Eine andere Szene, über die ich gerne sprechen möchte, ist die Balkonszene.
LS: Das war eine der intensivsten und auch ekligsten Szenen während des Drehs. In der Szene wird Linda von einem Verehrer mit Geschenkekorb heimgesucht. Linda steht oben auf einem Balkon, mit Blick auf die dunkle Straße. Er steht unten, erregt und in der Hoffnung, dass was geht. Linda will nicht und lässt ihn draußen stehen. Sie ist in Gedanken schon in ihrer glamourösen Kir-Royal-Welt, bei Max, dem sie in sein Model-Retreat nachreisen will. Daraufhin entlädt sich eine ungeheurer Hass und Wut auf Linda. Er beleidigt Linda verbal, beschimpft sie als „alt und ungefickt“. Aussagen, die leider teils auch zutreffend sind, weil sie sich eben über Dinge wie Jugend und Sexappeal definiert. In dieser Rage wird er total geil, fängt an zu masturbieren und kommt letztendlich auf den Geschenkekorb. Linda bleibt oben stehen, fast ein bisschen dümmlich. Sie fühlt sich überlegen. Schließlich lacht sie.

Warum dieses fast schon unheimliche Lachen? In all der Überlegenheit gibt es ja auch einen kurzen Moment der Angst. Nämlich, als der Mann unten klingelt und Linda kurz aus dem Bild verschwindet, weg vom Balkon. Der Zuschauer weiß nicht genau, ob sie diesen brutalen Typen vielleicht doch hineinlässt.
LS: Das Lachen habe ich mit Arroganz verbunden, die aus Unsicherheit und Verletztheit entsteht, aber dann überhand nimmt. Und auch damit, dass sie Max suchen wird. Also einer Hoffnung, dass sie auf solche Männer, wie der vor ihrer Tür, in Zukunft nicht mehr angewiesen sein wird. Das ist natürlich sehr naiv.

Trotz der Brutalität dieser Szene, wird einem auch etwas über den Mann klar.
JR: Absolut. Dieser Typ wird nie wieder kommen. Er wird auch keine Geschenke mehr bringen. Das macht man nur einmal mit ihm.

Es hat etwas sehr Beschämendes. Der Eindringling, der verbal und körperlich, durch das Masturbieren auf den Geschenkekorb, agiert zieht von dannen wie ein gekränkter Hund, dem man auf den Schwanz getreten ist.
JR: Und gleichzeitig wird klar, dass Linda hier zum ersten Mal zu einem solchen Mann Nein gesagt. Und der war bestimmt immer schon so übergriffig und hat dieses Machtgefälle ausgenutzt. Und das gibt dem Lachen wiederum Kraft. Die Szene hat aber auch etwas Absurdes. Der Typ verschwindet und was macht Linda? Sie lacht, trinkt Schampus, legt sich auf’s Sofa und schaut sich den nackten Penis einer kleinen Skulptur auf dem Couchtisch an.

Generell mischst Du professionelle und Amateurschauspieler? Linda zum Beispiel hat ja auch keine Schauspielausbildung.
JR: Ja. Das macht alles spielerischer und auch authentischer.

Deine Szenen haben etwas sehr ambivalentes. Du stößt Themen an, ohne sie wie üblich oder fertig zu erzählen.
JR: Ich glaube, dass war vor allem bei dieser Filmreihe so. Das hat einfach gut funktioniert, Geschlechterrollen so zu erzählen. Auch schon in „Pretty Boyz Don’t Die“. Das männliche Model, das sich vor dem Modelmörder fürchtet und durch München irrt. Und anstelle des Mannes, der hinter dem Busch heraus springt – das wäre das Klischee – steht eine nackte Frau im Trenchcoat vor ihm und präsentiert ihren Körper. Es geht mir dabei nicht darum, Rollenbilder umzudrehen. Das ist mir zu ironisch. Ich finde auch, dass Ironie oft als zu simples Mittel verwendet wird, um in der Kunst auf Dinge hinzuweisen. Dabei entsteht nur selten Mehrwert. Es ist für mich auch kein Feminismus, weibliche und männliche Attribute umzukehren. Ich hatte auch einfach sehr viel Freude am Schreiben und gerade dieses Fährten legen, aber nicht einlösen, empfand ich als eine herrliche Sache für diese Filme.

Welche Rolle spielt Humor in alldem für Dich?
JR: Ich habe mit ganz vielen Dingen gearbeitet, von denen es heißt, man dürfe sie nicht machen. Vor allem nicht, wenn man ernstgemeinte Filme machen will. Ich finde es solche Figuren allerdings deutlich lustiger! Und ich will eben keine Vergewaltigung zeigen. Die Balkonszene zum Beispiel mag in anderen Filmen die Grundlage für eine Vergewaltigung bieten. Das finde ich respektlos! Ich verstehe nicht, wie man so mit diesem Thema und den potentiellen Opfern umgehen kann.
LS: Und Du hältst die Zuschauer am Ball. So auch mit dem vielen komischen Szenen, so wie dem Einspieler mit dem Homeshopping.
JR: Ich versuche mit Humor zu erzeugen, dass der Film wie ein Bilderbuch wirkt. Man braucht kein immenses Vorwissen oder die einschlägige politische Überzeugung, man kann die Zusammenhängen beim Betrachten der Bilder und Zuhören auch so begreifen.

Im Film gibt es eine Erzählerstimme, die Lindas Handeln und Denken teils sehr provokativ kommentiert. Gesprochen wird die Stimme von Pico Be, einem Mann. Wer ist diese Stimme, die eine eigene Rolle zu haben scheint.
JR: Die Stimme spricht nicht direkt zu Linda und wir hören auch nicht, was sie denkt. Es ist ein auktorialer Erzähler. Die Stimme tritt im Laufe der Filmreihe immer mehr in den Hintergrund bis schließlich die Männer die Hauptrolle übernehmen. Hier ist sie schon fast ermutigend, wogegen sie in den ersten beiden Filmen eher ungehobelt und unfreundlich ist. Das Schreiben der Stimme hat mir mitunter am meisten Freude bereitet.

Und warum die Männerstimme?
JR: Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war. Eben weil es ein Mann ist, habe ich meine Schwierigkeiten damit. Aber ich glaube auch, dass ich durch eine Frauenstime einige Zuschauer verloren hätte. Letztendlich war die Frage, was ist die eine feministische Message zu viel. Und ich finde eben, dass es nicht eindeutig und moralisierend werden darf. Auf keinen Fall sogar! Diese publikumsbezogenen Entscheidungen waren bei „Pretty Boyz Don’t Die“ noch viel einfacher. Die Zuschauer haben über das Männermodel, die Modelmörderin und die Opfer der Modeindustrie gelacht. Hier war das schon wesentlich schwieriger.
LS: Ich erinnere mich, dass Viele zuerst befremdlich auf die Erzählerstimme reagiert haben. Eben, weil sie keine klassische Erzählstimme ist, sondern eine eigene Rolle verkörpert.

Ohne Euch in eine Richtung drängen zu wollen, aber was bedeutet Feminismus denn für Euch oder was bedeutet er eben nicht?
LS: Jovana und ich haben ganz oft über diese neue Welle an Feminismus, also den Popfeminismus diskutiert und uns aufgeregt. Alles über einen Kamm scheren, diese absolute Männerverurteilung, nicht mehr zu differenzieren zwischen Gleichstellung, Gleichbreechtigung, Selbstbestimmung. Plötzlich hat jede Frau dazu etwas zu sagen – und das ist selbstverständlich gut!! – aber gleichzeitig war es eben sehr simpel. Es geht auch gar nicht darum, Männer schlecht zu reden. Selbstbestimmung und Gleichberechtigung müssen nicht zwangsweise mit Herabstufung verbunden sein.
JR: Gleichzeitig wollen wir mit dem Märchen aufräumen, dass wir Powerfrauen ja alles haben können – geilen Sex, Job, heiße Schuhe, Haus, Abschluss, JoMake-Up. Wir dürfen alles haben, solange wir es uns erarbeiten und kaufen. Im Umkehrschluss heißt das dann, wenn wir es nicht erreicht haben, haben wir uns nicht genügend angestrengt. Diese Märchen sind alle schon einmal in den 50er und 60er Jahren entstanden, und sind jetzt wieder da. Das sind alles leere Slogans.

Jovana Reisinger, Pretty Girls Don’t Lie, 2017, Filmstill. Courtesy the artist.

Es geht nur noch im Empowerment, Schwäche hat da keinen Platz mehr.

JR: Ja, und auch die Wut und der politische Geist verschwinden. Wir sitzen dann bei teurem Crémant und diskutieren und dann geht jede nach Hause und lebt ihr ‚geiles Leben’ weiter. Diejenigen, die politisch arbeiten, unabhängig des Bereichs, sind völlig ausgelaugt und überarbeitet. Und erstere Gruppe, die Diskutierenden, das sind da diejenigen, die alles sofort kritisieren. Das ist Wahnsinn! Auch diese Wut hat den Film beeinflusst. Wir wussten, wir wollen produzieren, um zu projizieren.

In allen Filmen der Reihe existiert eine gewisse Passivität, die in krassem Gegensatz steht zu all dem gespielten Aktivismus in der Realität.
JR: Die Passivität existiert in allen Filmen, ja. Sie ist Grundstein aller Charaktere. Alle sind sie latent gelangweilt, leicht fertig, haben random Jobs und sind müde – das entspricht ja alles auch unserer Realität.

Dieses Müde spiegelt auch die Ästhetik. Der Film ist trashig. Die Fitnessgeräte sind alt und abgenutzt, 80er vielleicht? Welche Rolle spielt das Zeitsetting?
LS: Am Anfang sagt Linda, „so exotisch wie eine Piña Coloda 2017 noch sein kann“. Das ist der klare Verweis darauf, in welcher Zeit wir uns befinden. Aber generell weiß man bei keinem der Filme wirklich, in welcher Zeit wir sind. Es gibt eine Fülle an Anspielungen. Das war auch Methode, keinen Zeitrahmen zu setzen – einer meiner Fehler, die ich unbedingt ausprobieren wollte (lacht).

Die Filme erinnern an Helmut Dietl, die Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft, sowohl die Leere der Figuren wie auch der Look.
JR: Ja München wär das ja gerne wieder.

… vor allem der Münchner Film.
JR: Total. München sehnt sich nach diesem Glanz und Glamour. Schon bei Kir Royal war ja alles ultra cheap.

Eine geniale Szene ist auch die Barszene, die im Lovelace Hotel spielt, das ja momentan in München eine schicke Adresse ist. Da sitzen diese Personen und es ist klar, die Luft ist komplett raus.
JR: Und dann auch noch die Misswahl – die macht das Ganze noch trauriger. Das ist sie ja eh schon, aber dann auch noch vor diesem Publikum, in diesem Setting. Aber ich war begeistert, dass alle Frauen das so mitgemacht haben.

Jovana Reisinger, Pretty Girls Don’t Lie, 2017, Filmstill. Courtesy the artist.

Hat ein Münchner Publikum anders auf den Film reagiert als beispielsweise das in Oberhausen?
JR: Schwer zu sagen. Der Film hat ja einen städtischen Film bekommen. Die Kritikerinnen und Kritiker bzw. Jurymitglieder müssen den Film also für gut befunden haben. Aber ich kann mich auch erinnern, dass, nachdem „Pretty Boyz Don’t Die“ in Oberhausen lief, hat Dunja Bialas zu mir gesagt: „Danke für dieses Bild von München. So etwas muss man so dringend mal wieder sehen.“ Dunja Bialas war es auch, die meinen Film zur Woche der Kritik gebracht hat. Wir sind sogar auf einem Festival in Nigeria gelaufen.
LS: Den Film haben auch ganz unterschiedliche Menschen gesehen. Auch Freunde, die überhaupt keinen Zugang zur Kunst oder Interesse am Feminismus haben. Und alle haben sie gelacht. Mann und Frau. Der Film hat für jeden irgendwie funktioniert, obwohl nicht jeder die hier angesprochenen Gesamtzusammenhänge oder auch gar nicht Feministisches darin gesehen haben.
JR: Die Filme sind als Kurzfilme ja für den Ausstellungsraum entstanden und damit für ein Museum- oder Festivalprogramm. Es war toll, dass sich so viele damit auseinandergesetzt haben.

Haben Frauen und Männer unterschiedlich reagiert?
Ja, das war total spannend. Männer haben beispielsweise viel intensiver auf die Brautszene reagiert, in der Max Linda ersticht, die in ihrem Brautkleid an der Isar steht.
Für mich drückt die Szene meine Ablehnung gegenüber den noch immer bestehenden und wiederkehrenden Fragen nach Heirat und Kindern aus. Aber es hat eben auch die Gegenseite total angesprochen. Wer will denn heute noch dieses Bild der Frau im Hochzeitskleid sehen?

Wie reagierst Du auf diese Ambivalenzen im Publikum? Und inwiefern hat das Auswirkungen auf Deine momentane Arbeit?
JR: Mein neuer Kurzfilm, für den wir auch erstmals richtiges Budget hatten, handelt vom ewigen Optimierungswahn. Wir investieren in Produkte und Mittelchen, die versprechen Deinen Körper zu modellieren, weil Dir Deine Außenwelt vermittelt, dass Du nicht perfekt bist. Ich glaube auch, dass ich eine gewisse Verantwortung meinem Publikum gegenüber habe. Diese Verpflichtung kommt mit der guten Ausbildung, der Eliteschule, dem Zugang zu Geld, Macht und Struktur.
Mein Ziel ist es dabei, ein großes Publikum anzusprechen und Themen zu vermitteln. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern in Nuancen. Außerdem würde ich es hassen, wenn ich beispielsweise auf einem großen Festival nur in der Frauensparte laufen würde. So sehe ich mich nicht und ich halte auch nichts von diesen strikten Unterteilungen und Abgrenzungen. Ich will nicht nur in einer Nische existieren. (Lacht)

Gibt es etwas, was Du Dir in Bezug auf Deine Filme wünschst?
Ich würde gerne einen riesigen Mainstreamerfolg feiern, der die ganze Gesellschaft verändert und absolut feministisch ist. (Lacht). Da müssen wir doch hin! Einen voll finanzierten, großen Kinofilm machen, der unterhaltsam und politisch ist.

Diese Lücken versuchen immer mehr Serien zu füllen Ich denke beispielsweise an Jill Soloways „I Love Dick“, das von Amazon Prime produziert wurde. Leider wurde die Serie direkt nach der ersten Staffel abgesetzt wurde.
JR: Ich habe „I Love Dick“ geliebt, aber natürlich auch, weil ich alle ihre Referenzen auf Theorie und Filmemacherinnen verstanden habe. Etwa Dennoch glaube ich schon, dass „I Love Dick“ für jeden funktionieren kann, wenn man sich eben darauf einlässt, nicht alles verstehen zu müssen. Das ist der Clou, eben nicht zu versuchen alles zu verstehen. Und das ist eines der großen Probleme im deutschen Film. Es wird immer alles auserzählt. es wird so gut auserzählt, es bleiben keine Fragen offen. Und ganz oft weiß man trotzdem nicht, um was es geht. Die Figuren werden komplett auserzählt, aber das Thema nur oberflächlich abgehandelt.

Ähnlich ist es im Porno. Da sind Figuren und Handlung auch komplett erzählt.
JR: Und das ist so langweilig! Weil so vorausschaubar. Darüber schreibt auch Nina Power.
LS: Deswegen sind Amateurfilme auch oft besser als professionelle Filme. Die haben wenigstens Lust aufeinander. Lust fehlt im Porno.
JR: Das wird auch den ursprünglichen Pornofilmen zuträglich. Die frühen Filme, so um 1910, zeigen Menschen, die Lust aufeinander haben und sich kaputt lachen, wenn mal etwas nicht klappt. Wo ist der Humor im Porno geblieben? (lacht)

Pornos haben heute etwas Trauriges, fast Tragisches.
LS: Total. Vor allem, wenn man weiß, wie Männer und Frauen in dem Business verheizt werden. Deine Karriere dauert meist nicht länger als drei Monate. In der Zeit arbeitest du durchgehend bis zur völligen Erschöpfung.

Anstelle von Lust sehen wir Funktionalität und Automatismus. Jovana, Du wurdest einmal nach Pornos gefragt und hast darauf überlegt, einen Porno, wenn mit Sexrobotern zu drehen.
JR: Und zwar mit Sexrobotern mit einer künstlichen Intelligenz. Und dann schwebt mir immer der Film „Revenge“ von Coralie Fargeat vor, allerdings ohne die Vergewaltigungsszene und nur „Revenge“. Und zwar erhalten plötzlich alle Sexroboter ein Bewusstsein und dann anfangen wahllos Männer zu morden. Es ist dann wahrscheinlich ratsam, die Genrekonnotation zu kennen. (Lacht)

WANN: Der Film „Pretty Girls Don’t Lie“ läuft am Donnerstag, den 14. Februar, um 20 Uhr zur Woche der Kritik. Danach diskutieren Nina Power (Kultur- und Sozialtheoretikerin, Philosophin, “Die eindimensionale Frau”) und Whit Stillman (Regisseur, „Last Days of Disco“, „Love & Friendship“) zusammen mit den Regisseurinnen Susanne Heinrich und Jovana Reisinger.
WO: Hackesche Höfe Kino, Rosenthaler Str. 40 -41, 10178 Berlin.

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